Die Containerfrau
guten Helfer herbei, die er erreichen kann. Vor allem die Jüngeren, in deren Umgangskreis es Studentinnen gibt. Und einen alten Bekannten, der behaglich auf seinem breiten Hintern in einer Behörde sitzt. Sie hatten früher allerlei gemeinsame Interessen, wenn auch das brennende Interesse dieses Freundes an russischer Kultur und Sprache nicht dazu gehört. Ihr Kontakt riss ab, als der andere die Orientierungsläufe an den Nagel hängte. Sundt hat Glück und trifft ihn zu Hause an.
28
Anne-kin döst vor sich hin. Mit offenen Augen döst sie, das ist eine Kunst, die sie in überaus langweiligen Vorlesungen gelernt hat. Wach aussehen, aber in Gedanken weit weg sein. Aber sie ist gar nicht weit weg, sie ist in ihrem Wohnzimmer. Und wie sie in ihrem Wohnzimmer ist! Obwohl sie döst. Der »Spatz« döst nicht. Sie sitzt so unbequem wie überhaupt nur möglich auf der Stuhlkante, das Einzige, dem sie ein wenig Ruhe gönnt, sind ihre Ellbogen. Die ruhen auf ihren Knien. Sie sitzt wie auf dem Sprung. Eine Stunde lang sitzt sie so da. Dann schellt das Telefon. Die Prozedur wiederholt sich: Der »Spatz« wiederholt seine sorgfältigen Sicherheitsmaßnahmen. Dann darf Anne-kin abnehmen. Es ist Stein-Jørgen.
»My boyfriend«, flüstert sie dem »Spatz« zu und hält dabei die Hand auf die Sprechmuschel. Ein leichtes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
»Tell you love him«, flüstert der »Spatz«. »But sorry, not tonight. Tell him go drunk with friends.« Anne-kin erstickt den Anflug von Lachen, der in ihr hochperlt. Das hier ist verdammt noch mal kein Grund zum Lachen, Halvorsen, sagt sie sich selbst.
»Love you, but sorry not tonight, please go and get drunk with some friends«, wiederholt sie in den Hörer.
»With boyfriends«, fügt sie dann auf eigene Faust hinzu. Es kann natürlich Einbildung sein, dass sie ein unterdrücktes Kichern hört, als sie auflegt. Aber alte Häuser haben so viele Geräusche. Dann sitzen sie wieder schweigend da.
In Gedanken entwirft Anne-kin drei oder vier Theorien über den »Spatz«, eine so glaubwürdig wie die andere, jedenfalls, so lange sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen kann. Russin oder Polin, jedenfalls stammt sie aus einem Land, aus einer Sprache, die östlich von Polen angesiedelt sind. Und ist keine Finnin. Und spricht auch nicht mit den weichen Konsonanten südlicherer Gefilde. Als sie zum ersten Mal einen Griechen hörte, glaubte sie, er spreche Französisch. Und damit ist wohl alles über meine Sprachkenntnisse gesagt, denkt Anne-kin. Die sind mager. Englisch und Deutsch, ein paar Brocken Deutsch. Zehn Sätze Spanisch. Kein Dänisch. Von der dänischen gesprochenen Sprache kapiert sie kein Wort. Ihr Sommerflirt in Silkeborg konnte mit ihrem Trondheimer Dialekt ebenso wenig anfangen, sie mussten auf ganz anderer Ebene kommunizieren.
Die Kleidung des »Spatz« ist nicht die, die sie im RiT aus dem Nachbarzimmer geklaut hat. Kein teurer Mantel mit Seidenfutter, keine Damenstiefel. Was sie jetzt trägt, stimmt fast mit der Beschreibung der Bier zapfenden Studentin überein: Pullover, Minirock, kurze Stiefel. Aber keine Leggings. Sie trägt eine Tarnhose, die aus einem militärischen Ausverkauf stammt. Und eine Jeansjacke hat sie auch nicht. Bei der Jacke, die sie vorhin vollgekotzt hat, handelt es sich um eine Militärjacke. Genauer gesagt, um eine schweineteure Tarnjacke, wie sie in Waffen- & Bergsportläden verkauft wird. Anne-kin Halvorsen nimmt an, dass sie vom »Jäger« stammt.
Sie glaubt nicht, dass in den Taschen ein Mobiltelefon steckt, die Jacke hängt nicht schräg. In den Taschen steckt vermutlich eine Visitenkarte, die sie einmal einer Frau, die die Bewusstlose spielte, in die Hand geschoben hat. Eine Karte, die die »bewusstlose« Patientin aufbewahrt hat. Das ist die einzige Antwort auf die Frage, warum der »Spatz« jetzt hier sitzt.
Was ist mit dem »Schießunfall«? War das wirklich ein Schießunfall, dort draußen in der seltsamen Geröllhalde? Der einem unvorsichtigen Jäger unterlaufen ist? Oder einer Frau, die keine Ahnung von Waffen hat? Oder war es ganz einfach Mord?
Anne-kin Halvorsen schaut rasch zum »Spatz« hinüber, versucht, etwas in ihrem Gesicht zu finden, etwas, das sie deuten kann. Sie findet kein Gesicht, die Frau hat sich so verdammt raffiniert hingesetzt. Im Zimmer herrscht trübes Licht, Halbschatten, nur die kleine Lampe an der Wand hinter ihrem Schreibtisch, die sie nie ausknipst, brennt. Und die Straßenlaterne vor dem
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