Die Containerfrau
Fürsorge zugrunde liegt, der Wunsch, ihr möge nichts Schlimmes passieren, das hätte in dieser Nacht doch leicht passieren können. Das leicht bohrende Gefühl in seiner Brust will er nicht genauer untersuchen. Es erinnert ihn zu sehr an eine Beziehung, die mit Trennung und den Worten endete: »Ich habe schreckliche Angst vor Eifersucht, Stein-Jørgen, und du bist extrem! Mach’s gut.« Aber verdammt, Anne-kin und Vang sind doch unzertrennlich, und ihr Umgangston ist mehr als neckend und kollegial. Der klingt nach Flirt. Schließt die Umgebung aus. Ihn auch. Und das wird er bald nicht mehr ertragen können.
Die Sekretärin des Instituts für Akustik schaut verdutzt hinter ihm her, als er auf ihren Gruß hin kläfft: »Das ist verdammt noch mal kein guter Morgen!« Hat sie etwas Falsches gesagt? Launische Mannsbilder! Gereizt taucht sie wieder in ihren Papierstapeln unter.
35
»Hier«, sagt Vang, »hier ist die Mitschrift des Telefongesprächs zwischen ›Spatz‹ und Dolmetscherin. Ich habe sie gelesen«, er schiebt Anne-kin die Papiere zu.
»Das ist die Übersetzung«, fügt er hinzu. Kommissarin Halvorsen schaut kurz zu ihrem Kollegin hinüber. »Was du nicht sagst«, sie grinst ironisch, »und ich dachte schon, du kannst Russisch.« Sie fängt an zu lesen, ohne zwei langsam errötende Ohrläppchen zu sehen.
»Und hier ist der Bericht der Dolmetscherin«, sagt er und schiebt ihr einige weitere Papiere hin.
»Ebenfalls übersetzt?«, murmelt sie neckend und liest weiter. Zuerst überfliegt sie alles, dann liest sie es noch einmal. Gründlich. Nach einer guten Stunde schiebt sie den Stuhl zurück und geht zum Fenster. Dort bleibt sie lange schweigend stehen.
»Ja«, sagt Vang und bricht das Schweigen. »Sie ist Russin. Gibt den Namen Irina Sverdlowska an, achtzehn Jahre alt, Beruf: arbeitslose Fabrikarbeiterin, Wohnung: Wohnsiedlung Utilitas, Murmansk. Nächster Angehöriger: ein zehn Jahre älterer Bruder, Andrej.
Die Dolmetscherin hat verdammt gute Arbeit geleistet«, fügt er dann auf eigene Kappe hinzu. Anne-kin nickt. Sie denkt daran, wie gereizt der »Spatz« auf einige Fragen reagiert hat, wie schwer es vermutlich war, Tatsachen, persönliche Angaben aus ihr herauszuholen.
»Die kleine Irina«, sagt Anne-kin und zeigt auf die Unterlagen. »Das muss die kleine Irina sein, die sie erwähnt hat. Ein Jahr jünger, siebzehn. Und die Letzte ist Natascha, 20 Jahre. Mit Nachnamen, Adressen, Angehörigen.« Sie lehnt den Kopf an die Fensterscheibe, die sofort beschlägt.
»O Scheiße«, flüstert sie, »jetzt wird es plötzlich … jetzt werden sie … die Frauen im Container, die wir gefunden haben, die dort gelegen, die dort hineingeworfen worden waren, sie … sie sind keine ›unbekannten Toten‹ mehr, sie heißen … sie haben einen Namen … Familie … sie, sie … Scheiße!« Sie schlägt mit der Faust gegen die Dreifachscheibe. Vang würde gern zu ihr gehen, die Arme um sie legen, wagt jedoch nicht sich zu bewegen. Er hat von der Seite her schon einmal Ohrfeigen kassiert, wagt nicht, die edle Vorstellung einer tröstlichen Umarmung in die Tat umzusetzen. Er bleibt auf seinem Stuhl sitzen. Gestattet sich nur »wirklich, zu übel.«
»Ja«, hört er, sieht seine Kollegin auf sich zutaumeln und spürt, wie sie an seine Schulter sinkt. »Das ist zu übel.« Erst jetzt wagt er, sie an sich zu drücken und sie tröstend zu streicheln. Er hat fast das Gefühl, sich selbst zu trösten und zu streicheln. Das dauert zehn Sekunden, vielleicht auch nur neun. Dann springt sie auf und fragt, was jetzt passieren soll.
»Ist das Büro in Murmansk informiert? Das norwegische? Die Russen? Die Angehörigen, haben wir …«
Vang hebt die Hand.
»Vor allem unser Job«, sagt er. Sie wechseln einen Blick. Und machen sich an die Arbeit.
36
Hauptkommissar Sundt stellt die wichtigsten Dinge des Lebens in Frage. Jedenfalls die des Polizistenlebens. Wenn Rundfunkjournalisten schneller ermitteln als die Polizei und Haus besitzer das Rätsel des »geschlossenen Raums« lösen – ja, was soll dann noch eine hinterherhinkende Polizeitruppe, zum Teufel? Hauptkommissar Sundt sagt übrigens nicht »zum Teufel«, er ist ein Mann, der nie flucht – behauptet er selber.
Ist das möglich, fragt er sich, während er Sivert K. Ljaam, Geschäftsführer der Firma Nybo AG, einen skeptischen Blick zuwirft, ist es möglich, dass meine Leute dieses seltsame Fossil nicht entdeckt haben? Einen Küchenaufzug? Einen kleinen Kasten zu
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