Die Corleones
versuchte er, ihn in einem neuem Licht zu sehen. »Gehen wir«, sagte er schließlich, legte ihm den Arm um die Schultern und geleitete ihn hinaus.
21.
»Little Carmine! Den kenn ich schon, seit er ein Kind war«, sagte Benny Amato zu Joey Daniello, einem von Frank Nittis Jungs. Es war neun Uhr morgens, und sie waren gerade mit dem Zug aus Chicago eingetroffen. Sie schlenderten den Bahnsteig entlang, jeder mit einem Koffer in der Hand. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Reisender steuerten sie die Haupthalle des Grand Central Terminal an.
»Bist du dir sicher, dass du ihn erkennst?«, fragte Joey. Diese Frage hatte er Benny bereits ein Dutzend Mal gestellt. Er war ein hagerer Kerl, der aussah wie ein Sack voller Knochen. Er und Benny waren wie einfache Arbeiter gekleidet und trugen khakifarbene Hosen, billige Hemden und ausgefranste Anoraks. Beide hatten sie sich Wollmützen in die Stirn gezogen.
»Klar erkenn ich ihn. Hab ich nicht eben gesagt, dass ich ihn von klein auf kenne?« Benny zog seine Mütze aus, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und setzte sie wieder auf. Er war ebenfalls dünn, wirkte aber drahtig und muskulös. Joey dagegen sah so aus, als würde er in eine Million Stücke zerspringen, wenn man ihn unsanft anfasste. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dir zu viel Sorgen machst?« Benny fragte in gutmütigem Tonfall, aber Joey lachte nicht.
»Die beiden Anthonys hätten sich mal besser ein paar Sorgen gemacht«, erwiderte Joey.
»Diese Typen aus Cleveland? Das sind doch alles Amateure. Himmel noch mal«, sagte Benny, »scheiß auf Cleveland!«
Vor ihnen führte ein Bogengang in die weitläufige Haupthalle, wo heller Sonnenschein durch riesige Fenster hereinfiel und auf dem Boden einzelne Lichtkreise bildete. Zahlreiche Reisende steuerten zielstrebig Fahrkarten- oder Informationsschalter oder die Straße an, aber die Halle war so groß, dass sie alle verloren wirkten. In der Mitte der Halle, wo ein kleines Mädchen sich in einem der Lichtkreise übergeben hatte, waren zwei stämmigeFrauen mit Eimern voller Seifenwasser und Scheuerlappen zugange. Eine junge Frau hielt das Kind in den Armen, während die Frauen schrubbten, und als Joey und Benny an der Stelle vorbeikamen, stieg ein widerlicher Pfefferminzgeruch vom Boden auf.
»Hast du Kinder?«, fragte Benny.
»Die machen doch nur Ärger«, erwiderte Joey.
»Na ja, ich mag Kinder.« Benny nahm Kurs auf den Ausgang zur 42. Straße, während einzelne Gesprächsfetzen zu den Sternbildern an der unfassbar hohen Decke hinaufhallten.
»Ich hab nichts gegen Kinder«, sagte Joey. »Ich find nur, dass sie den Ärger nicht wert sind.« Er kratzte sich im Nacken, als hätte ihn dort gerade etwas gebissen. »Er wartet gleich draußen auf uns, oder? Bist du sicher, dass du ihn immer noch erkennst?«
»Yeah«, sagte Benny. »Ich kenn ihn, seit er klein war.«
»Er arbeitet für Mariposa, stimmt’s? Ich sag dir was – mir gefällt es nicht, dass diese Typen uns den weiten Weg aus Chicago herholen, damit wir hier ihre Arbeit machen. Verdammte Sizilianer. Nichts als ein Haufen dummer Bauern.«
»Hast du das Nitti gesagt?«
»Was? Dass die Sizilianer nichts als ein Haufen dummer Bauern sind?«
»Nein. Dass es dir nicht passt, dass wir von Chicago hierherfahren müssen, um uns um die Angelegenheiten der New Yorker zu kümmern.«
»Nein. Hast du es Al gesagt?«
»Al ist im Moment nicht erreichbar. Aber allzu schwierig wird das hier nicht. Soweit ich gehört hab, ist dieser Corleone ein Schwätzer mit nichts dahinter.«
»Das haben die Anthonys wahrscheinlich auch gehört«, sagte Joey und kratzte sich so fest im Nacken, als wollte er etwas umbringen.
Vor dem Grand Central, auf dem Gehsteig an der 42. Straße, ließ Carmine Loviero eine Zigarette fallen und trat sie aus. »Hier drüben«, rief er Benny zu. »Eh!«
Benny hatte bereits den Arm halb erhoben, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen, doch als er Carmines Stimme hörte, erstarrte er. Sein Blick fiel auf die massige Gestalt in einem blassblauen Anzug, und er betrachtete sie sichtlich verwirrt, bevor er den Gehsteig überquerte. »Little Carmine!«, sagte er schließlich. Er stellte den Koffer ab und umarmte ihn. »
Madre ’Dio!
Ich hab dich nicht erkannt! Du musst zwanzig Pfund zugenommen haben.«
»Eher vierzig, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, erwiderte Carmine. »Himmel, wie alt war ich da – fünfzehn?«
»Ja, das kommt hin. Das ist mindestens zehn Jahre
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