Die Creeds: Wo die Hoffnung lebt
musterte Carolyn mit einem Ausdruck wissender Belustigung in den Augen.
Carolyn war auf einen Massenandrang nicht vorbereitet.Sie roch nach Pferd, ihre Frisur erinnerte wahrscheinlich an eine Vogelscheuche, und ihre Freundin wusste offenbar genau, was sie am Vormittag am Hidden Lake getrieben hatte.
Oder beinahe getrieben hätte.
Eher unwahrscheinlich, dachte sie um einiges erleichtert. Tricia war schlau, aber keine Hellseherin.
„Ich bin gleich zurück“, informierte sie Tricia und hastete die Innentreppe hinauf.
In ihrer Wohnung duschte Carolyn in Rekordzeit, zog frische Sachen an, bändigte ihre wilden Locken so gut es ging und raste in halsbrecherischem Tempo zurück in den Laden.
In der Zwischenzeit waren alle Kunden gegangen, und Tricia saß auf einem hohen Hocker hinter dem Tresen und beäugte Carolyn mit gutmütigem Argwohn. „Und wo bist du bitte schön gewesen?“, fragte sie.
Carolyn wusste, was Tricia dachte – nämlich, dass sie die ganze Nacht aus gewesen war und nicht nur einen Teil des Vormittags.
„Aus“, erwiderte sie freundlich. Winston miaute und strich um ihre Knöchel. „Woher sind all diese Leute gekommen?“
„Von überallher. Offenbar spricht sich herum, dass wir einzigartige Ware führen. Zwei von ihnen haben den Zigeunerrock im Internet gesehen und wollten wissen, ob sie dafür bieten können. Ich habe ihnen geraten, in unserem Internetauktionshaus ihr Gebot abzugeben.“
Beim Gedanken, den Rock zu verkaufen, verspürte Carolyn den gewohnten schmerzlichen Stich. Allerdings wäre es besser, wenn er zu einer Fremden kam, die weit entfernt von Lonesome Bend lebte. Den Rock an einer ortsansässigen Frau zu sehen, das wäre so, als würde sie immer wieder einen Blick auf ein Kind erhaschen, das sie zur Adoption freigegeben hatte.
„Gute Entscheidung“, murmelte sie und begann einen Verkaufstischaufzuräumen. In diesem Moment musste sie Beschäftigung vortäuschen.
„Carolyn“, sagte Tricia streng, aber ruhig. „Wir müssen reden.“
Erst vorhin hatte Brody ziemlich genau das Gleiche gesagt.
Warum wollten plötzlich alle reden? Warum konnte man nicht alles so lassen, wie es war?
„O-o-o-kay“, erwiderte Carolyn misstrauisch, indem sie das Wort dehnte. Sie gab ihre vorgetäuschte Betriebsamkeit auf, drehte sich um und sah Tricia in die Augen. „Fang an.“
Tricia seufzte. „Dir ist vermutlich aufgefallen, dass ich in letzter Zeit häufig früher Schluss im Laden mache“, begann sie. „Und ich finde, das ist dir gegenüber nicht fair. Wir sind schließlich Partnerinnen.“
„Tricia“, ermahnte Carolyn ihre Freundin sanft, „du erwartest ein Kind. Es macht mir nichts aus, hin und wieder für dich einzuspringen.“
„Das ist es ja gerade. Du springst nicht nur hin und wieder für mich ein. Mir geht es gut in jeder Hinsicht – ehrlich –, aber an manchen Tagen bin ich einfach so müde. Der Arzt sagt, das sei normal, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass du mehr als deinen Beitrag leistest. Das bedeutet, dass sich etwas ändern muss.“
Carolyn schluckte krampfhaft und war sich plötzlich überdeutlich bewusst, was nun kommen würde. Sie hätte voraussehen müssen, dass Tricia das Geschäft aufgeben würde, aber sie hatte es nicht getan. Die Entscheidung war sinnvoll. Zwar hätte Tricia nach der Geburt des Babys zu Hause reichlich Hilfe, aber der Neuankömmling würde mehr von ihrer Zeit und Energie beanspruchen, nicht weniger.
„Ich bitte dich nicht, mich abzufinden“, fuhr Tricia fort. „Ich weiß, dass das im Moment unmöglich ist. Vielleicht, wenn das Kind etwas älter ist …“
Wenn das Kind älter ist, dachte Carolyn mit einer Mischungaus Verständnis und liebevollem Neid, kommt wahrscheinlich ein zweites Baby. Wenn nicht mehrere.
„Carolyn“, drängte Tricia. „ Sag etwas.“
Nur mit Mühe rang Carolyn sich ein Lächeln ab. „Alles muss sich irgendwann ändern“, sagte sie und sah sich wehmütig im Laden mit seinem farbenfrohen, vielfältigen handgefertigten Angebot um. Er war eine Oase der Schönheit, eine Hymne an die Kreativität, und bis jetzt war Carolyn nicht bewusst gewesen, wie sehr sie ihn liebte. „Aber es war eine schöne Zeit.“
Tricia glitt von ihrem Hocker und kam gewissermaßen auf Carolyn zu, die Stirn in Sorgenfalten gelegt. „Es war eine schöne Zeit?“, wiederholte sie. „Soll das heißen, du willst den Laden nicht weiterführen?“
„Wie soll ich das machen, Tricia? Ich kann mir keine Angestellten
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