Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
auch nicht besser.
Der junge Mann hatte sich schon lange nicht mehr an die Ereignisse dieses Abends erinnert. Sein Vater hatte ihn nur einmal in seinem ganzen Leben geschlagen. Dies eine Mal. Und das Verrückte war, dass Flint es ihm nicht übelnehmen konnte. Er konnte verstehen, was seinen Vater dazu getrieben hatte. Scham überkam ihn – und Traurigkeit.
Ich hasse diese Sitzungen! Ich hasse sie!
Flint verwendete das Wort „Hass“ sehr sparsam. In dieser Situation empfand er es jedoch als angemessen. Sein Unterbewusstsein hatte ein Recht auf Privatsphäre.
Warum meinen die Leute immer, man müsse alles wieder an die Oberfläche zerren? Alles war so gut – und jetzt?
Jetzt musste er sich mit einem Schutthaufen befassen, der in seinem Innern brachlag und all das Neue und Schöne, das er sich angeeignet, das er geschenkt bekommen hatte, beschmutzte.
Je schneller es geht, desto schneller sind wir fertig. Je schneller es geht, desto schneller sind wir fertig. Je schneller es geht, desto schneller sind wir fertig.
Dieses neue Mantra sollte ihm dabei helfen, durchzuhalten. Es war das Einzige, an das er sich jetzt noch klammern konnte.
Kapitel 28
Tom war zufrieden. Das Frühstück im Haus Rosina Kemptens stellte sich als reichhaltig heraus.
Linda beobachtete die Farben seiner Aura. Auch wenn ihr Bruder nicht halb so verfressen wie Valerian war, so erinnerte er sie doch irgendwie an den Unsterblichen. Sie fragte sich, was der wohl gerade machte.
Essen, zweifelsohne , dachte die Seherin.
Ihr war von der Haushälterin ausgerichtet worden, dass Rosina sie nach dem Frühstück in ihrem Morgenzimmer erwartete.
„Hat sie gesagt, was sie von dir will?“, erkundigte sich nun Tom.
„Nein, hat sie nicht. Ich vermute mal, dass sie mir sagen wird, wie es jetzt weitergeht. Wenn es denn weitergeht …“
Ihr Bruder winkte ab. „Natürlich tut es das. Keine Sorge.“
„Das sagt sich leicht“, entgegnete Linda bedrückt. Ihre Finger tasteten über ihr leeres Tischset, denn sie war immer noch viel zu nervös, um zu essen.
Kurz darauf saß die blinde Seherin mit Rosina Kempten allein in deren „Morgenzimmer“. Sie war so aufgeregt, dass ihr die verrücktesten Gedanken kamen. Ob es auch ein Mittags- und Abendzimmer gibt? , grübelte sie. Nicht, weil es sie wirklich interessierte, sondern weil sie sich von ihrer eigenen Nervosität ablenken wollte. Sie hatte darüber nachgedacht, ob sie ihrem Ordensoberhaupt frei heraus sagen sollte, dass ihr klar war, dass sie durchgefallen wäre, und sie dieses Urteil lieber annehmen wollte, als unverdient eine zweite Chance, die ihr nur wie eine Gefälligkeit vorkommen würde, zu bekommen.
Das wäre eigentlich korrekt von mir. Vielleicht erwartet sie das sogar?
Doch dann hatte sie der Mut wieder verlassen.
Schließlich geht es hier nicht nur um mich. Mama wäre entsetzt – und was Oma dazu sagen würde, will ich lieber gar nicht erst wissen.
„Meine Liebe, ich hoffe, du hast dich wieder beruhigen können?“, begann Rosina Kempten liebevoll das Gespräch.
„Ja, vielen Dank“, kam die brave Antwort.
Na gut, das stimmt nicht ganz, aber ich bin schon ruhiger als gestern. Es ist also nicht wirklich gelogen.
„Du hast dich in deinem Zimmer gut zurechtgefunden?“
„Ja, sehr gut sogar. Vielen Dank.“
„Gut. Aber nun genug geplaudert. Kommen wir lieber zu etwas Wichtigerem, nämlich zu deiner Ordensprüfung.“
Die junge Seherin nickte seufzend.
„Ich fürchte, dass wir gestern einen schlechten Start hatten. Das tut mir leid.“
Die Studentin bekam ein merkwürdiges Gefühl. Sie mochte es nicht, wenn sie selbst etwas falsch gemacht hatte und ihr Gegenüber sich dafür bei ihr entschuldigte.
„Nein, mir tut es leid. Ich habe … mich einfach blöd angestellt.“
Rosina antwortete nicht gleich. Das verunsicherte Linda noch mehr. Sie bemühte sich, in den Farben ihrer Aura zu lesen, doch vermochte sie nichts außer Zuneigung und freundlichem Interesse darin wahrzunehmen.
„Deine Bescheidenheit ehrt dich, aber ich bin anderer Meinung. Wenn eine Prüfung so schwer ist, dass die Probandin einen unkontrollierten Notruf an jemanden schickt, dann zeigt mir das, dass ich die Aufgabe falsch gestellt habe.“
Rosina hatte ruhig und freundlich gesprochen, aber ihre Stimme offenbarte der jüngeren Frau, dass sie keinen Widerspruch duldete.
Linda entgegnete nichts. Stattdessen ließ sie die Worte des Orakels auf sich wirken. Ich habe also nichts falsch gemacht , schoss ihr
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