Die da kommen
blassere Ausgabe von Stephanie. Sie stellt sich als ihre Schwester Felicity vor. Ich vermute, dass sie für die Blumen verantwortlich ist, da sie diese Veranstaltung organisiert hat, und gebe ihr die Kawasaki-Rose, damit sie sie auf den Sarg legen kann. Sie nimmt sie zerstreut entgegen. Stephanie beachtet Freddy nicht weiter. Sie schaut ihn nicht einmal an. Ihm scheint es egal zu sein. Ashok, heute in dunklen Nadelstreifen, sagt: »Hallo, Kleiner«, bleibt aber auf Distanz und verzichtet auf das übliche Haarezerzausen, Schulterboxen und Abklatschen. Er wirkt erschöpft und angespannt, und seine Haut ist gelblich wie ein verblichener Polaroid-Schnappschuss.
»Die anderen sind da drüben«, sagt Stephanie. »Aber haltet Freddy bitte von uns fern, wenn es euch nichts ausmacht.« Sie deutet auf eine Gruppe schwarz gekleideter Gestalten, die zueinem niedrigen Gebäude aus rotem Backstein gehen, bei dem es sich wohl um die Kapelle handelt. Die Frauen bewegen sich vorsichtig auf den unebenen Pflastersteinen. Das Gebäude ist sehr klein und unauffällig im Verhältnis zum Friedhof – es könnte auch ein vergrößertes Lego-Modell von Freddy sein.
Ich kann mir nicht gut Gesichter merken. Kaitlins Familie bin ich selten begegnet, und ihren Bruder Alex habe ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Er hat mich nie gemocht. Ihre Mutter ist im Hospiz geblieben. Stephanie hat mir erzählt, sie hätten entschieden, ihr nichts von Kaitlins Tod zu erzählen.
Stephanie beginnt ohne Vorwarnung zu weinen, und Felicity nimmt sie fest in den Arm. Naomi wendet sich an mich und Flynn: »Bringt Freddy herein, wenn der Gottesdienst angefangen hat. Ich gehe mit Steph.«
»Ich komme mit«, sagt Ashok.
Während sich die anderen zu der Gruppe der Trauernden am Eingang der Kapelle gesellen, zündet Flynn sich eine Zigarette an, und ich lese einige Aufschriften auf den Grabsteinen. Die meisten sind mit verkrusteten Flechten bedeckt, deren Ränder gekräuselt sind wie die Küstenlinie auf einer Landkarte. Kenneth Melhuish ist 1922 sanft entschlafen. Freddy hat seine Aufmerksamkeit einem weiß-gelb gefleckten Schmetterling zugewandt, der sich über die Blütenblätter einer Rose bewegt. Er schnappt das Insekt so schnell, dass er es schon verschluckt hat, bevor ich reagieren kann, und wendet sich dann wieder einem knotigen Stock zu, dessen Rinde er wie »tote Piratenhaut« abzieht. Connie Anne Kenderick ging mit 93 Jahren in ein erfüllteres Leben hinüber. Es gibt so viele Euphemismen für das Sterben. In Frieden ruhen. Die Welt verlassen. Nach zehn Minuten schließt sich die Kapellentür, und wenig später erklingt von drinnen Musik. Ich erkenne die ersten Akkorde von ›Abide with me‹.
»Okay, Freddy«, sagt Flynn nach der zweiten Strophe. »Hesketh und ich bringen dich jetzt mit rein. Du kannst deinen Stock mitnehmen.«
Wir nehmen ihn jeweils an einem Arm und treten leise durch die schwere Tür. Er leistet keinerlei Widerstand. Alle stehen und sind zu sehr mit Singen beschäftigt, um uns anzuschauen.
»Erste leere Bank rechts«, sagt Flynn. Wir rutschen hinein und setzen Freddy zwischen uns. Ich sitze direkt am Gang.
Ich bin in meinem Leben noch nicht auf vielen Beerdigungen gewesen. Bei der meines Großvaters, als ich ein Junge war. Dann beim Begräbnis meines Vaters und später bei dem meiner Mutter – zu beiden Anlässen las ich Herberts Gedicht ›Die Blume‹, das ich auch dem Kriminalbeamten Mazoor vortrug. Dann war ich bei der Beerdigung von Mrs Helena Whybray. Es gab eine weltliche Trauerfeier, später wurde Helena eingeäschert.
Als das Kirchenlied zu Ende ist, setzen wir uns, und nach langem Geraschel herrscht Stille in der Kapelle. Naomi dreht sich halb um, sieht uns und nickt kurz.
Kaitlins Sarg steht auf einem Gestell in der Nähe der Kanzel. Er ist weiß und mit einem einfachen Strauß geschmückt, der selbst gepflückt aussieht. Meine Rose steckt in der Mitte. Ich bin erleichtert, dass Felicity nicht zu zerstreut war, um meinen Beitrag zu berücksichtigen, denn Kaitlin hätte diese Symmetrie sicher gefallen. Die Papierblume ist mein Abschied und meine Begrüßung zugleich.
Unter den Trauernden sind mehrere Frauen mit Hüten. Einige Teenager, aber keine kleinen Kinder. Ich erhasche einen Blick auf Ashok in der Reihe hinter Stephanie, die vorn bei der Familie sitzt.
Der Pfarrer, klein und kahlköpfig, hebt sich nüchtern vondem lebhaften Buntglas der Fenster ab, auf denen die Kreuzigung dargestellt ist. Er beginnt
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