Die da kommen
ist hier. Ich muss los.«
Ich ducke mich, als Freddy durchs Gebüsch schießt. Ich will ihn auf offenem Gelände erwischen. Am Fuß eines riesigen Mastes bleibt er stehen und neigt den Kopf, als horchte er auf etwas. Es raschelt im Gebüsch. Ich halte die Luft an, bleibe im Versteck. Etwas mahlt in meiner Brust. Ich darf ihn nicht verlieren, ich darf ihn nicht verlieren, ich darf ihn nicht verlieren.
Dann sehe ich sie durchs Geäst – höchstens fünf Meter entfernt.
Sie sind hinter dem hohen, rostigen Zaun, dicht gedrängt, die kleinen Finger umklammern den Maschendraht, der durchgerüttelt wird, während sie von einem Fuß auf den anderen treten. Sie machen ein leises, schnalzendes Geräusch. Ich zähle elf. Einige tragen Sonnenbrillen für Erwachsene, die ihnen viel zu groß sind. Es riecht. Nach Urin und noch etwas anderem. Etwas Fauligem. Einer von ihnen – ein dunkelhäutiger Junge mit kaputtem Schneidezahn – hält seine schmutzige Faust vors Auge und öffnet grüßend die Hand. Freddy erwidert den Gruß und läuft über den Müll auf dem Boden hinweg auf sie zu. Ihre Haare sind verfilzt. Beine und Füße sind nackt, und sie tragen nur ein Minimum an Kleidung: T-Shirts und Unterwäsche. Ein Mädchen hat ein zerrissenes Kleid an, ein anderes nur einen Badeanzug. Ihre Haut ist schmutzig und zerkratzt. Ich blinzle angestrengt und sehe, dass ein Junge eine Halskette trägt wie die, die Freddy für Stephanie gemacht hat. Sie sieht verfault aus. Dann begreife ich auch, warum. Sie besteht aus Fleischstücken.
Ich brauche einen Moment, bis ich begriffen habe, was für eine Art Fleisch das ist.
Es dürfte mich eigentlich nicht überraschen.
Ich habe Filmmaterial von den wilden Stämmen gesehen. Daher habe ich ihre brutaleren Riten schon bis zu einem gewissen Grad vorausgeahnt. Wäre Professor Whybray hier, würde es zu einer angeregten Diskussion kommen. Aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um wie ein Anthropologe zu denken. Es ist Zeit, Freddy heimzuholen.
Ich bezweifle nicht, dass ich ihn fangen kann. Aber ich will sichergehen, dass Flynn und Ashok mir dabei Rückendeckung geben. In diesem Augenblick zeigt der größte Junge auf ein Loch unten im Zaun. Freddy nickt, macht den Augengruß, fällt abrupt auf die Knie und windet sich hindurch. Er wird aufgenommen wie ein Fisch in einen Schwarm. Wortlos drehen sie sich um und huschen auf höher gelegenes Gelände, wo sich eine Kleingartenanlage mit kleinen Hütten befindet. Ich halte mich versteckt und laufe parallel zu ihnen an der Bahnlinie entlang. Keiner dreht sich um. Falls sie die Gegenwart eines Erwachsenen spüren, lassen sie sich nichts anmerken. Ich bin mir absolut sicher, dass das Begräbnis schon aus Freddys Erinnerung verschwunden ist und ich mit ihm. Er ist in eine Dimension eingetreten, in der unsere Welt irrelevant geworden ist.
Jenseits der Kleingärten ändern sie die Richtung und laufen auf eine Ladenzeile zu, die sich in der Nähe der Eisenbahnbrücke befindet. Die Straße sieht leer aus, keine Anzeichen menschlichen Lebens. Ich kann ihnen den Weg weiter oben abschneiden, wenn ich an der Seite hinaufklettere und sie überrasche. Als ich oben ankomme, kann ich sie von meinem Versteck hinter einem Fliederbusch aus genau beobachten. Mir wird klar, dass es noch mehr Kinder geworden sind.Woher sie kommen, weiß ich nicht. Es müssen jetzt über zwanzig sein. Sie sind schwer zu zählen, weil sie lebhafter sind und sich fließend bewegen, sie tuten und schnalzen und rennen durcheinander. Ich bin viel größer als sie. Doch nun, da sich die Gruppe fast verdoppelt hat, zögere ich. Ich kauere neben der Eisenbahnbrücke, unsichtbar für die Kinder, und schicke Flynn eine SMS mit meinem Standort.
Ich warte auf Sie.
Und das mache ich auch. Es ist faszinierend, sie so zu beobachten, in ihrem ungezähmten Zustand. Ein älterer Junge und ein kleineres Mädchen mit schmutziger Plastikbrille scheinen die Anführer zu sein. Sie versammeln sich auf einem Parkplatz neben einer Reihe geschlossener Geschäfte. Dies ist ein Niemandsland. Sie scheinen kein besonderes Ziel zu haben, bis einer von ihnen beinahe gelangweilt einen losen Ziegelstein aus der Mauer eines Supermarktes zieht und damit das Fenster des Geschäfts einwirft. Das Glas reißt, bricht aber nicht. Angetrieben von seiner Tat lösen die anderen Kinder weitere Steine aus der Mauer und machen mit. Bald ist ein Loch entstanden, durch das man in den Supermarkt eindringen kann. Sie drängen sich
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