Die da kommen
Gehirnblutung erlitten hat und aufgrund von Personalmangel, fehlendenRessourcen und hohem Patientenandrang keine medizinischen Fachkräfte in der Lage waren, die notwendigen Schritte einzuleiten, und dass daher die 37-jährige Patientin Kaitlin Kalifakidis, Mutter eines Sohnes, auf tragische Weise verstorben ist.
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Kaitlin Kalifakidis ist tot, Kaitlin Kalifakidis ist tot, Kaitlin Kalifakidis ist tot.
Als ich es Freddy erzählte, nickte er nur. Das war vor drei Tagen. Seitdem hat er keine Fragen mehr gestellt. Ich habe es nicht weiter verfolgt. Er hat noch etwa neunzig Prozent seines Lebens vor sich. Ich vielleicht sechzig. Eines Tages werden wir es vielleicht beide begreifen können.
Aber nicht heute.
Seit dem Anruf habe ich Stephanie nicht mehr gesehen. Sie fuhr von Phipps & Wexman aus sofort ins Krankenhaus und dann zu ihrer Schwester. Als ich mit dieser Schwester über die Vorbereitungen des Begräbnisses sprach, klang sie nicht so glücklich, wie ihr Name Felicity es erwarten lassen könnte. Felicity beschrieb ihre Schwester als »zutiefst verzweifelt«. Außerdem hofft Stephanie offenbar, dass es bei Freddy »endlich ankommen werde«, wenn er zur Beerdigung seiner Mutter ginge.
Ich halte das für höchst unwahrscheinlich.
In meinem Arbeitszimmer finde ich die Kiste mit meinen Origami-Utensilien. In einem Umschlag mit der Aufschrift HL liegt die Kawasaki-Rose. Mir war klar, dass sie sie nicht weggeworfen hatte. Sie wusste, wie viel Arbeit darin steckte. Wie viel Vorfalten und Zick-Zack-Falten nötig gewesen war, wie viele Berg- und Talfalten, wie viele Quetschfalten, Gegenbrüche und Blütenblätter. Sie ist ein bisschen verblichen, aber noch zu gebrauchen und ein Werk der Schönheit.
Es ist Mittwoch, der 3. Oktober, später Vormittag. Der Friedhof liegt in Wimbledon. Flynn mit dem Pferdeschwanz fährt Freddy, mich und Naomi in einem Sechssitzer hin. Professor Whybray hat seine Beziehungen spielen lassen, damit Kaitlins Familie einen frühen Bestattungstermin bekommt. Kinder aus einer Pflegeeinrichtung dürfen nur mit einer Erlaubnis des Innenministeriums öffentliche Orte aufsuchen – worum sich der Professor ebenfalls gekümmert hat – und müssen von drei erwachsenen Personen begleitet werden. Naomi sieht wunderschön aus in ihrer cremefarbenen Seidenbluse und dem schwarzen Rock. Freddy trägt einen schwarzen Jogginganzug, das einzige farblich Passende, was ich finden konnte. Die rote Uniform würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Er hat sich auf dem Rücksitz eingerollt und schnalzt und summt leise vor sich hin. Da ich kein dunkles Jackett dabeihabe, habe ich mir eins von Professor Whybray geliehen. Allerdings fühle ich mich darin nicht wohl, weil es zu kurz und an den Schultern zu eng ist. Aus diesem und anderen offensichtlichen Gründen fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut.
Wir fahren durch weitgehend verlassene Straßen, deren surreale Stille nur gelegentlich von Sirenengeheul unterbrochen wird. Die Ampeln funktionieren nicht mehr. In Wandsworth müssen wir einen großen Umweg fahren, denn eine gebrochene Wasserleitung hat die Straße in einen See verwandelt. Er ist von halb versunkenen schwarzen Müllsäcken durchsetzt. Wolken von Fliegen vibrieren in der Luft. Der Gestank in der Gegend ist überwältigend. Freddy sitzt mit ausdrucksloser Miene auf dem Rücksitz.
Der Friedhof erstreckt sich über viele Tausend Quadratmeter, eine staubige Oase in einem urbanen Hinterland ausLagerhäusern, Wohnblocks und Einkaufszentren aus den Achtzigerjahren. Durch die Absenkung des Bodens stehen fast alle Grabsteine schief. Manche sind tief eingesunken wie in Treibsand. Ein geschecktes Pferd ist ans Tor gebunden und frisst von dem trockenen Gras, das an vielen Stellen abgescheuert ist wie ein alter Teppich. Der Parkplatz – rissiger Asphalt mit abgenutzten Markierungen und Unkraut, das durch die Spalten dringt – ist von lichtem Wald und Rhododendren umgeben. Von hier aus führt ein Weg zum Friedhofseingang, der von dürren Buchen gesäumt wird. Auf der einen Seite gibt es eine Böschung hinunter zur Bahnlinie. Ein Zug rumpelt vorbei, ein blau-roter Blitz hinter einer Wand aus japanischem Knöterich und schmalblättrigem Weidenröschen. Flynn schließt den Wagen ab, und wir bleiben einen Augenblick stehen, um uns zu kalibrieren.
Ashok und Stephanie warten schon auf dem Parkplatz, wo die Trauergemeinde eines früheren Begräbnisses gerade die Heimfahrt antritt. Bei ihnen steht eine ältere und noch
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