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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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fächerförmigen Blättern, und Sunny Chen wies ihn an, auf uns zu warten. Ich freute mich, dass ich so viel Chinesisch verstand.
    Die Schreine schmiegten sich an den Boden, und ich erkannte erst nach einer Weile, wo wir uns befanden. Es müssen über hundert Monumente aus Marmor, Granit und Zement gewesen sein, die auf dem Hügel mit Blick auf die Stadt verstreut standen. Hier oben befanden wir uns am äußersten Rand des Hexenrings. Weit genug entfernt von der wimmelnden menschlichen Wucherung, um deren Größe und Ausmaß zu erkennen. Um uns herum tanzten die Luft und das Sonnenlichtauf den Pfützen, die das Gewitter hinterlassen hatte. Der Bambus raschelte, Insekten surrten und zirpten hektisch.
    »Gutes Feng-Shui«, sagte Sunny Chen und deutete mit einer ausholenden Geste auf die Aussicht. Sie war spektakulär. Unter einem blauen, mit weißen Wolkenbüscheln gestreiften Himmel hockte der riesige Krater der Stadt: eine Zentrifuge aus Geld, Metall, Glas und Zement, aus Einkaufszentren und Sportstätten und Hauptverkehrsstraßen, die mit stecknadelkopfgroßen Autos gespickt waren und ein leises Summen von sich gaben. Ein Hitzeschleier lag über den glitzernden Keramikdächern der äußeren Vororte. Man konnte von hier oben keine Menschen erkennen, aber im Geiste ein Röntgenbild erstellen und wahrnehmen, wie das Leben in der Stadt brodelte. Taipeh hat vier Millionen Einwohner mit steigender Tendenz. Ich fragte mich, weshalb Sunny Chen mich an einen Ort gebracht hatte, an dem pulsierendes Leben und unvergessene Tote aufeinandertrafen. Weit unter uns wirbelten schwarze Vögel wie grobe Asche über den Wolkenkratzern.
    Kurz darauf machten wir kehrt und gingen zwischen den Familienschreinen hindurch: flache, eckige Konstruktionen mit breiten Stufen, die an Schwellen erinnerten. Manche bröckelten vernachlässigt vor sich hin, andere hingegen dienten als gepflegte, verschwenderisch geschmückte Schaukästen für die Ahnen. In den Mauern, die das Gelände eingrenzten, gab es Nischen, in denen Urnen standen. Streunende Katzen sonnten sich auf gesprungenen Steinplatten oder schnupperten an den Überresten der Speiseopfer. Nach dem klimatisierten Taxi war die Luft drückend heiß. Ein warmer Wind wehte aus Westen wie ein Haartrockner, rüttelte die schwarzen Bambusstämme und brachte die halb verbrannten Papiermodelle, die an den Schreinen befestigt waren, zum Rascheln. Kleine gerahmte, vom Regenwasser fleckige Schwarz-Weiß-Fotos der Toten glitzerten in der Sonne. Das im April stattfindendeQingming-Fest hatte seine Spuren in Form von durchweichten, verkohlten Räucherstäbchen, Blumen aus Plastik und Seide und den Resten von Brandopfern hinterlassen. Die Ausfallstraßen roter Ameisen transportierten uralte Essenskrümel zwischen verblichenen, vom Regen durchnässten Papp- oder Papierrepliken begehrter Gegenstände hindurch: winzige Häuser, Yachten, Autos und Handys, die sich allesamt in die kulturelle Kategorie des Kitsches einfügten. Der künstlerische Standard war nicht sonderlich hoch.
    »Wohnen hier Ihre Vorfahren?«, fragte ich.
    »Da drüben.« Er deutete auf einen Schrein, der mit Fotos übersät war, davon nur zwei in Farbe. Die meisten Gesichter wirkten streng, lediglich eine Frau lächelte ein wenig. Die Männer trugen Jacken, die Frauen Cheongsams. Keiner von ihnen hatte Ähnlichkeit mit Sunny Chen. »Man erwartet nicht, dass sie in Lumpen gekleidet sind, oder?«, platzte er wütend heraus und deutete auf die Fotos. »Man denkt, dass sie wie auf den Fotos aussehen. Normale Größe. Schicke Kleidung. Man glaubt nicht, dass sie unangenehm riechen. Man erwartet nicht, dass sie Insekten essen.«
    Ich wartete auf eine Erklärung für diesen bizarren Ausbruch, doch sie kam nicht. Sein Gesicht zuckte erregt. Dann griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte ein Bündel scharlachrotes, mit Gold verziertes Papier hervor. Höllengeld. Jeder Schein dieser unechten Währung war mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt. Ich erkannte ein paar der schlichteren, die »himmlisch« oder »Respekt« bedeuteten. Am unteren Rand war auf jeden Schein in englischer Sprache Bank of Hell gestempelt.
    Er reichte mir einen Schein.
    »Würden Sie mir bitte einen kleinen Mann falten?« Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Setzen wir uns hierher.« Er deutete auf einen Schrein, der im Schatteneines Baumes mit gefiedertem Laub und kerzenartigen pelzigen Knospen stand.
    Ich legte das Höllengeld auf die niedrige

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