Die da kommen
Verstandes vom Rest »dissoziieren« und eigene, unabhängige Entscheidungen treffen kann. Ein Trauma oder stark unterdrückte negative Emotionen wie Schuldgefühle, Eifersucht, Feindseligkeiten oder Zorn können der Auslöser dafür sein, dass sich der Verstand auf diese Weise hinter seinem eigenen Rücken versteckt. Am interessantesten sind für mich aber jene Fälle von Selbstsabotage, wie der eines Mannes, der einen anonymen Brief an die Polizei schickt und sich darin des Mordes an seiner Frau bezichtigt, später aber bestreitet, ihn je geschrieben zu haben, oder der einer Krankenschwester, die »versehentlich« fünf Patienten am selben Tag das falsche Medikament spritzt und keinen Grund dafür liefern kann, oder der Fall einer Braut, die ihr Kleid in Brand setzt, während sie sich auf die Zeremonie vorbereitet.
Ich zeichne einige Venn-Diagramme. Wenn ich einer Sache auf der Spur bin, spürt mein Blut es noch vor meinem Gehirn, und ich werde sehr hungrig. Mir fällt die Minibar ein.Trockenobst. Gesalzene Cashewnüsse. Die unvermeidliche Toblerone. Während ich esse, schließe ich die Augen und warte auf die Verbindung.
Doch stattdessen kommt Freddy. Das tut er immer öfter.
Ich öffne die Augen und sehe auf die Uhr. Er dürfte jetzt gerade aus der Schule kommen.
Meine biologische Uhr erinnert sich an seinen Tagesablauf.
Zu meinem Geburtstag im Februar schenkte er mir einen Dinosaurier, der später zum einzigen Andenken an ihn werden sollte. Er hat Beine aus Klopapierrollen und Glubschaugen aus Eierkartons. Seine Haut besteht aus einer groben Schicht Pappmaschee und ist grün mit roten Punkten. Als ich ihn fragte, wie er heiße, sagte er: »Happybirthdayosaurus.« Kinder haben keine Hemmungen, neue Wörter zu erfinden. Der Happybirthdayosaurus steht auf meinem Schreibtisch neben dem halb gefalteten Einsiedlerkrebs. Für einen Jungen seines Alters ist Freddy äußerst geschickt mit den Händen. Kaitlin hatte die Idee, ihm einen großen Arbeitstisch für sein Zimmer zu kaufen und dazu eine Kommode, die er mit Federn, Muscheln, Papprollen, Stoffresten, Blättern, aussortiertem Schmuck, Schrauben und Nägeln füllte – lauter Dingen, aus denen man etwas Neues machen konnte. Er bewahrte darin auch sein Werkzeug auf. Ich brachte ihm Verpackungen und Styroporchips mit, leere Druckerpatronen und kaputte Computerteile, die er seiner Sammlung hinzufügte. Er liebt es, Dinge zu erfinden und Chaos anzurichten. Besonders begeistert er sich für Holzkleber. Er hat immer welchen an den Händen. Beim Essen pult er ihn ab. Er nennt ihn »tote Piratenhaut«.
Als ich bei Kaitlin anrufe, meldet sich niemand. Das ist meistens so. Sie schaltet den Anrufbeantworter aus. Ich bleibe trotzdem dran und zähle die Klingeltöne.
Ich habe im Geiste sieben ozuru gefaltet und fange mit dem achten an. Gerade will ich einhängen, als sich beim neunundfünfzigsten Klingeln jemand meldet.
»Hallo, hier Freddy Kalifakidis, wer ist da?« Er klingt laut und atemlos, er muss gelaufen sein.
»Hallo, Freddy K! Ich bin’s.« Ich bin so überrascht, ihn zu hören, dass mir die Worte fehlen. Ihm jedoch nicht.
»Wann kommst du zurück?«
Ich zögere. »Was hat deine Mutter gesagt?«
»Sie hat gesagt, du bist im Ausland, und wir werden dich eine Ewigkeit nicht sehen.«
Ich fange an, vorsichtig mit dem Oberkörper zu schaukeln. Ich weiß, dass es in der Welt, in die ich nicht ganz gehöre, eine Regel gibt, nach der man Kindern »die Wahrheit ersparen« soll.
»Na ja, momentan bin ich in einem anderen Land. Aber ich wohne nicht hier. Ich habe ein Cottage auf der schottischen Insel Arran. Sie hat sich also geirrt.«
»Was machst du da?«
»Arbeiten. Und ich habe einen Goldfisch. In einer alten Badewanne.«
»Cool!« Freddy wollte immer gern einen Fisch haben.
»Vielleicht kannst du mich besuchen und mir helfen, einen Namen für ihn zu finden.« Es macht ihm großen Spaß, Dinge zu taufen. »Wo ist deine Mutter?«
»Im Garten. Wir haben Löwenzahn ausgerissen, aber sie ist total sauer geworden, weil ich eine Assel gegessen habe, und sie hat gesagt, ich muss mir die Zähne putzen und dass es echt eklig ist. Und ich bin hier, um es abzuwaschen, ich hab nämlich noch Dreck im Mund, Asselblut.«
»Du hast eine Assel gegessen?«
»Eigentlich eine Menge Asseln. Vielleicht hundert. Wenn man sie anfasst, rollen sie sich zu einer Kugel. Und dann kannman sie wie Erdnüsse essen. Ich hab sie auf der Erde gefunden, da war ein ganzes Nest unter einem
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