Die da kommen
Andrang nimmt zu, und ich weiß, dass überall sonst Chaos herrscht. Das Innenministerium hat weitere achtzigtausend Uniformen bestellt, aber es sieht jetzt schon aus, als würde das nicht reichen. Niemand ist auf so etwas vorbereitet. Alle improvisieren nur. Es gibt Pressebeschränkungen, ihr werdet also nichts über neue Fälle in Großbritannien hören. Mit etwas Glück kann es die Sache verlangsamen. Was immer ich euch sage, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«
»Natürlich«, sagt Stephanie rasch.
Hinter ihr geht die Tür auf.
»Professor Whybray!«, rufe ich. »Ich bin hier!« Es ist frustrierend, so viele Tausend Kilometer von ihm entfernt zu sein, denn ich hätte ihm gern die Hand gegeben. Als er hereinkommt, wirkt er gebeugter als bei unserer letzten Begegnung. Entweder hat der Bildschirm komische Farben, oder er ist sonnengebräunt. Sein weißer Bart und der Schnurrbart sind aber noch wie früher. Als er mich sieht, lächelt er.
»Wann zum Teufel nennen Sie mich endlich Victor?« Dienäselnde, sich überschlagende Stimme klingt vertraut, und etwas in meiner Brust bewegt sich. »Ich weiß, dass Sie kein Umarmer sind.« Er breitet die Arme aus. »Sie sind also gerade noch mal davongekommen.«
»Schön, Sie zu sehen, Professor.« Ich erwidere die Umarmungsgeste, sodass Stephanie sich ducken muss, und er lacht. Ich bin glücklich. Es ist ein reines und schönes Gefühl.
»Hallo, Professor, ich bin Stephanie Mulligan.« Sie hebt die Hand. »Auch von Phipps & Wexman.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagt er lächelnd. »Ashok Sharma hat mir von Ihnen erzählt. Sie werden jetzt beide mit mir zusammenarbeiten, falls Sie einverstanden sind.«
Beide? Wieso beide?
»An dieser Theorie von einer Pandemie?«, fragt Stephanie. »Hesketh hat davon erzählt.«
»Ich habe mir schon gedacht, dass er darauf kommt.« Naomi holt ihm einen Stuhl, und er setzt sich neben sie und lächelt in ihre Richtung. Er fühlt sich wohl in seiner Haut. Er hat mir oft den Arm um die Schulter gelegt und mich »Sohn« genannt. Dann fühlte ich mich auch wohl in meiner Haut.
»Fangen wir an. Kinder und Erwachsene richten in einer dissoziativen Fugue schweren Schaden an. Verschiedene Methoden, gleiches Ergebnis: Sabotage. Einerseits Familien und größere soziale Strukturen, andererseits die Ökonomie. Hesketh, was haben Sie bei den Erwachsenen beobachtet?«
Ich schaue noch immer zu den rot gekleideten Kindern im Hintergrund, während ich Professor Whybray und Naomi Benjamin eine kurze Zusammenfassung der drei Ermittlungen liefere. Als ich das Salz erwähne, zieht Professor Whybray die Augenbrauen hoch.
»Nun, ich kann Ihnen auch etwas zum Thema Salz erzählen. Wir wissen von hundertfünfundzwanzig bestätigtenFällen weltweit, in denen Kinder Angriffe verübt haben und eine Gier nach Salz gezeigt haben.«
»In welcher Form?«, fragt Stephanie.
»Alle Kinder sind wild auf Zucker und Salz«, antwortet Naomi. »Das ist fundamental. Wir sprechen hier aber von richtigen Exzessen. Chips, salziges Popcorn, Erdnüsse, das übliche Knabberzeug. In Küstengebieten essen sie angeblich Algen.«
»Jonas Svensson hat Algen gesammelt und Meerwasser getrunken« bemerke ich. »Und er hat Essen gehortet.«
»Bei manchen Kindern trat es schon Wochen vor den Angriffen auf«, fährt Naomi fort. »Und Eltern berichten von Vorräten an Essen und Salz, die sie in den Kinderzimmern gefunden haben.«
»Was die Angriffe betrifft, können sich die meisten nicht mehr daran erinnern. Interessant ist aber, dass sie gleichgültig wirken, wenn sie erfahren, was sie getan haben. Möglicherweise eine Schockreaktion. Später werden sie Erwachsenen gegenüber feindselig. Oder einfach verächtlich. Die Familien behaupten, sie würden sie nicht wiedererkennen. Manche sagen, es sei nicht ihr Kind.«
»Wechselbälger«, sage ich. »Besessenheit von etwas Fremdem. Austausch gegen eine Kopie. Eine sehr weit verbreitete Erklärung für atypisches Verhalten.«
»Aberglaube war ein Spezialgebiet von Hesketh«, sagt Professor Whybray zu Naomi. »Bevor er zur dunklen Seite überlief.« In diesem Augenblick öffnet sich hinter ihnen die Tür, und ein junger Mann mit Pferdeschwanz und schmalem Gesicht kommt herein.
Naomi dreht sich mit ihrem Stuhl herum. »Hallo, Flynn, was ist los?«
»Tut mir leid, wenn ich euch unterbreche«, sagt er zu uns. »Aber ich muss Naomi entführen. Wir haben ein Problem.«
»Ab mit Ihnen, Naomi«, sagt Professor Whybray. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher