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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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Kinder kreisen sehen, manche im Laufschritt, andere herumschlendernd. Wenn Fische oder Vögel in Schwärmen zusammenfinden, folgen ihre Bewegungen einfachen mathematischen Mustern. Die gleichen Muster kann ich auch hier erkennen. Mir kommt Elias Canettis Klassifizierung von Masse in den Sinn: Die Masse will immer wachsen; innerhalb der Masse herrscht Gleichheit; die Masse liebt Dichte; die Masse braucht eine Richtung . Zweiweibliche Angestellte in weißen Jacken stehen am Rand und überwachen das, was im Grunde nichts anderes als Biomasse im dynamischen Fluss ist.
    »Hallo, Hesketh. Und du musst Freddy Kalifakidis sein.« Wir drehen uns beide um. Naomi Benjamin sieht in Wirklichkeit genauso eindrucksvoll aus wie auf dem Bildschirm. Wir geben einander die Hand. Auf Skype war es nicht so gut zu sehen, aber sie ist ein paar Jahre älter als ich – vielleicht Anfang vierzig. Große, dunkle Augen. Kurzes, dunkles Haar und Sommersprossen. Eine kurze, weiße Jacke – wohl die Personaluniform – über einem Pullover im Farbton Korallendämmerung und einer Jeans in Holzkohle. »Freddy.« Sie kniet sich hin, sodass sie mit ihm auf Augenhöhe ist, und begrüßt ihn. Dabei bietet sie mir einen Blick auf ihren eindrucksvollen Ausschnitt. Ich werde unweigerlich auf ihre Brüste starren. Womöglich tue ich das jetzt schon. Kaitlin hat mir immer vorgeworfen, ich würde dazu neigen. »Ich bin Naomi. Willkommen.« Sie lächelt, und es entstehen kleine Falten um ihren Mund, was bedeutet, dass sie häufig lächelt. Anders als ich interessiert sich Freddy nicht für Naomi Benjamin. Er bewegt sich zur Seite, damit er die Kinder im Sportraum besser sehen kann. »Ich bringe dich zur Krankenschwester. Sie stellt dir ein paar Fragen, und dann kannst du zu den anderen gehen. Einverstanden?«
    »Klar!« Er stößt die kleine Faust in die Luft. »Tschüss dann, Hesketh.« Er wirkt völlig ungerührt. Es versetzt mir einen Stich. Soll ich ihn so schnell an diesen wimmelnden Stamm verlieren?
    »Bis dann, kleiner Mann.«
    »See you later, Alligator.«
    Ich drehe mich um und sehe den beiden nach.
    Naomis Hintern sieht sehr fest aus.
    »Darf ich Ihnen etwas verraten?«, fragt eine Stimme an meinem Ohr. Ich schieße herum. »Es hat Vorteile, in meinem Alter zu sein. Es gibt weniger Ablenkung.«
    »Professor!«
    »Hesketh!«
    Wir schütteln einander lange und kräftig die Hand, und dann umarmt er mich. Er trägt eine weiße Jacke wie Naomi. Ich bin froh, ihn zu sehen.
    »Freut mich sehr, mein Junge. Sind Sie immer noch so wild auf Gerechtigkeit?«
    »Ist das etwas, das man einfach aufgibt?«
    »Dann würden Sie mir also zustimmen, dass es ungerecht ist, dass Sie immer noch wie ein Pin-up aussehen, während ich ein alter Knacker mit Angina pectoris und Krampfadern geworden bin?« Ich sehe, dass er gealtert ist. Doch wenn er lächelt, wirkt er wie ein runzliges Kind. »Ich führe Sie rasch herum.«
    Er legt mir den Arm um die Schultern, wie er es immer tut, und wir gehen gemeinsam die Treppe hinunter. Die Einrichtung besteht seit einem Monat, erzählt er. »Aber seit Sonntag geht es um Krisenmanagement. Keiner kann sagen, ob wir bereits den Höhepunkt erreicht haben. Und es lässt sich nicht länger vertuschen. Wir gehen davon aus, dass wir das Syndrom bekämpfen können, wenn wir es verstehen. Aber es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, und im Augenblick verlieren wir ihn.« Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Ehrlich gesagt, mache ich mir keine großen Hoffnungen. Einige Einrichtungen experimentieren mit Medikamenten. Sie haben herausgefunden, dass man manche Symptome unterdrücken kann. Aber es sind starke Medikamente mit unerfreulichen Nebenwirkungen. Sie können nicht für eine längere Dauer eingesetzt werden. Außerdem behandeln sie nicht die tiefere Ursache. Was immer die auch sein mag.«
    Freddy bekommt keine Medikamente, denke ich. Schluss, aus.
    Unten an der Treppe öffnet er die Tür mit einer Schlüsselkarte.
    »Wie im Gefängnis«, sage ich. Es ist nur eine Feststellung, doch er dreht sich um und schaut mich an. Seine Augen sehen aus wie damals, als Helena starb: wild, mit einer vergrößerten Iris. Habe ich einen Fauxpas begangen?
    »Das hier ist ein Gefängnis. Ein sehr notwendiges. Aus dem sie, wie Sie sehen, nicht entkommen können.« Richtig. Ich habe noch nicht ganz verdaut, dass Freddy ein Gefangener geworden ist. Doch ich begreife, dass ich es verdauen und meine Wahrnehmung entsprechend anpassen muss. »Im Notfall wird uns die

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