Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
Vom Netzwerk:
haben die verrückte Idee, mit den beiden Jüngsten ins Ausland zu gehen und ganz neu anzufangen. Aber ich sage dir, sie werden anders denken, wenn sie sie in dieser Pflegeeinrichtung gesehen haben. O Mann, das ist wie ein Ausflug in einen beschissenen Zoo.«
    »Wie meinst du das?«
    Er beugt die Schultern und schwingt die Arme hin und her. »Stell dir einen Affenkäfig vor. Hoo-hoo-hoo . Das sind keine Kinder mehr. Das sind Freaks von einem anderen Planeten. Viel Glück bei deiner Arbeit mit Whybray. Alle Besprechungen finden übrigens hier in der Zentrale statt. Ich werde aufgar keinen Fall noch einmal den Fuß in eine solche Einrichtung setzen.«
    Wenngleich Ashok zu Übertreibungen neigt, erinnere ich mich, dass Naomi Benjamin die Atmosphäre in den Einrichtungen als »bedrückend« bezeichnet hat. Jetzt bin ich noch gespannter darauf, die Kinder selbst zu beobachten. Schon als ich sie in Dubai auf dem Monitor gesehen habe, wie sie in ihren roten Uniformen umherwimmelten, war ich fasziniert.
    Wenn Freddy und ich einen Ausflug in den Zoo unternehmen würden, wie Ashok es bei unserem Gespräch formuliert hat, würde ich eine Wasserflasche und meine Kamera und ein Buch über die Tierwelt mitnehmen, falls das Informationssystem des Zoos wie so oft unterdurchschnittlich oder unzureichend ist.
    »Was ist das überhaupt für ein Ort?«, fragt er.
    Ich blicke von der Karte auf. Ich kann mich nicht auf das GPS meines Handys verlassen und habe daher die Strecken geplant und auswendig gelernt. »Man nennt es Pflegeeinrichtung. Das ist ein Ort für Kinder, die eine Weile nicht zur Schule gehen können. Deren Eltern oder Freunde oder Angehörige Unfälle wie deine Mama hatten.«
    »Cool!« Wenn Freddy grinst, sieht er manchmal aus wie der kornische Kobold auf Seite 392 meines illustrierten Handbuchs übernatürlicher Traditionen. So auch jetzt. Er hat keine Anzeichen von Sorge um Kaitlin mehr gezeigt. Aber ich vermute, das wird noch kommen.
    Ich kann kein Taxi finden, also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu laufen, während Freddy mit seinem kleinen roten Fahrrad fährt. Noch bevor ich wegging, habe ich die Stützräder abmontiert und ihm das Radfahren beigebracht. Er hat es sehr schnell gelernt.
    Es ist ein trüber Tag, mit dick gebauschten Schichtwolkenam Horizont, die wie Isoliermaterial übereinandergelagert sind. Vom Vogelgezwitscher abgesehen, ist es sehr still. Es fliegen keine Flugzeuge, und auf den Straßen herrscht wenig Verkehr. Viele Autos parken in schiefem Winkel, als hätte man sie eilig zurückgelassen. Wir werden achtmal angehupt. Als wir den gewaltigen orangefarbenen Zikkurat des Sainsbury-Supermarktes passieren, wedelt ein Mann am Steuer eines riesigen Lkw wütend mit den Armen, als wollte er uns aus seinem Blickfeld drängen. Vom Standpunkt des Fußgängers aus ist die A 308 eine wenig ansprechende Straße. Auf der A 3220 wird es besser, aber als die Battersea Bridge in Sicht kommt, werden wir allmählich müde. Freddy klagt, seine Beine täten weh, und ich bücke mich, um ihn von hinten zu schieben. Das Rucksackgewicht seiner komatösen Mutter – mein psychosomatisches Trauersymptom – ist immer noch da. Ich würde gerne mit Elisabeth Kübler-Ross über die Bedeutung dieses Gewichts sprechen und wie sie sich seine weitere Entwicklung vorstellt.
    Auf der Battersea Bridge bleiben wir auf dem Fußgängerweg stehen, um das Panorama zu betrachten. Freddy lehnt sich auf sein Fahrrad und starrt hinüber, sagt aber nichts, als ich ihm flussabwärts zu unserer Linken die Albert Bridge und den Chelsea Physic Garden und die viktorianischen Laternenpfähle auf der Brücke zeige. Die Themse ist von einem stumpfen Braun und silbern gefleckt. Auf einem Dach sehe ich einen Mann stehen, der den Horizont mit dem Fernglas absucht, und nehme mir vor, demnächst auch eins mitzunehmen. Ich schätze, wir sind noch 1,9 Kilometer vom Ziel entfernt. Kein Fahrzeug überholt uns, aber vom anderen Ende der Brücke kommt uns auf dem gegenüberliegenden Gehweg eine Gruppe menschlicher Gestalten entgegen. Als sie sich nähern, erkenne ich drei Erwachsene und ein Kind. ZweiMänner, eine Frau. Das Kind ist ein Mädchen. Ich schätze, dass sie genau wie Freddy begleitet wird. Sie ist größer als er, aber nicht viel älter. Vielleicht zehn.
    Als sie an uns vorbeigehen wollen, bleibt das Kind stehen. Es blickt hoch und legt die Hand an die Stirn, als wollte es salutieren. Doch die Hand bildet eine Faust. Dann öffnet das Mädchen

Weitere Kostenlose Bücher