Die da kommen
und sofort hört man eine Kakophonie aus Grunzen, Summen, Zungenschnalzen und Tuten. Hier und da klingt ein Wort durch. »Sie können aufzeichnen, so viel Sie wollen. Die Zwanzigergruppen wechseln jede halbe Stunde.«
»Welche nicht englischen Sprachen sind in dieser Gruppe vertreten?«
»Arabisch, Urdu, Gujaratisch, Polnisch und noch ein paar. Ich ernenne Sie hiermit zum linguistischen Chefberater der Pflegeeinrichtung Battersea. Neben all Ihren weiteren Pflichten. Nur zu, mein Junge.«
Den Rest des Tages verbringe ich bei der Observation und mache mir Notizen. Das Personal, das die Kinder beaufsichtigt, wirkt verzweifelt, als wären sich die Leute der Bedrohung durch diese Kinder ständig bewusst. Ich frage mich, wie viele von ihnen Mörder sind. Es herrscht ein nur unzureichendkontrolliertes Chaos. Freddy ist in der letzten Gruppe, die ins Zimmer kommt. Es ist vier Uhr. Er wirkt kraftlos und beginnt zu gähnen. Andere Eltern kommen, um die Tageskinder abzuholen. Als es immer weniger werden, stecke ich den Kopf in Professor Whybrays Büro.
»Ich bringe Freddy nach Hause. Er ist vollkommen fertig.«
»Natürlich. Miranda wohnt in der Nähe von Fulham und hat ein Auto. Sie finden sie auf dem Spielplatz. Sie kann Sie sicher mitnehmen. Erster Eindruck?« Er bietet mir einen Platz an.
Ich ziehe einen Stuhl heran und überfliege meine Notizen. »Linguistisch gesehen, ist die Grammatik rudimentär. Es gibt keine Verständnisprobleme. Auf Englisch habe ich da drüben, hier lang und fuck you gehört. Lap-sap ist ein häufiger gebrauchtes Schimpfwort. Ich habe auch dupek gehört, was auf Polnisch Arschloch bedeutet. Dreimal kam yallah vor, das ist Arabisch für beeil dich oder los jetzt oder komm schon . Dann hätten wir ikenie , ein japanisches Wort, das Opfer bedeutet. Den Zusammenhang konnte ich nicht ganz ermitteln. Wir haben also einen Mischmasch aus bis zu fünfzehn verschiedenen Sprachen. Hier und da mag es einen Ausdruck geben, aber nie einen vollständigen Satz. Ich versuche, das Ganze zu kartieren. Wiederholt habe ich die Begrüßungsgeste mit der zur Faust geballten Hand beobachtet, die dann geöffnet wird. Sehen Sie mal.« Ich klappe meinen Laptop auf und zeige ihm Sunny Chens Selbstmordzeichnungen.
Er deutet auf den Handabdruck. »Wir sehen viele Kinder, die dieses Zeichen hinterlassen. Im Sand oder an den Wänden. Vom Innenministerium habe ich erfahren, dass es laut Polizei in den letzten Wochen als Graffiti aufgetaucht ist. Immer auf Kinderhöhe.«
»Und sehen Sie sich dieses Auge an. Bemerken Sie die Ähnlichkeit mit der Geste, die die Kinder machen? Zuerst habe iches für ein allsehendes Auge gehalten. Vielleicht eine Gottheit. Aber …«
Naomi kommt herein und nimmt sich einen Stuhl.
»Wir haben eben drei freiwillige Helfer verloren«, verkündet sie. »Einer schien kurz vor dem totalen Nervenzusammenbruch.« Sie wirft einen Blick auf das Auge. »Hey, das ist interessant.«
»Wieso?« Professor Whybray horcht auf.
»Weil ich gerade eben den psychiatrischen Bericht über die spanischen Zwillinge gelesen habe. Darin steht, dass beide denselben Albtraum hatten, und zwar am Morgen vor ihrem Angriff. Es ging um entzündete Augen.«
Ich springe auf. »Das passt!«
»Inwiefern?«
»Weil im Bericht des Augenarztes über Svensson eine Lebensmittelvergiftung als mögliche Ursache seiner Augenentzündung genannt wird. Anscheinend können bakterielle Infektionen, die im Verdauungstrakt beginnen, die Nasennebenhöhlen befallen und Druck auf den Augapfel ausüben, der daraufhin anschwillt. Angenommen, das Anschwellen wird durch helles Licht verschlimmert, dann würde das die Sonnenbrillen erklären.«
»Also zeigt das Signal die Mitgliedschaft in einer Art Traumaklub an«, sagt Naomi. »Bei den Mitgliedern entzünden sich die Augen, schwellen an, und dann – was?«
»Jonas Svensson hat den Ausdruck plopp benutzt. Falls die Augeninfektion nicht behandelt wird und sich durch intensive Sonneneinstrahlung verschlimmert, könnte das Auge tatsächlich platzen.«
Wir denken schweigend darüber nach. Draußen beginnt es zu regnen, es klatscht laut gegen das Panoramafenster. Dann sagt Naomi: »Da wir gerade spekulieren, Victor. Haben Sie Hesketh schon Ihre Große Theorie vorgetragen?«
Er zögert.
»Ich würde sie gerne hören«, sage ich.
»Na schön. Vielleicht liege ich damit völlig daneben, Hesketh. Also, wo immer diese Kinder zu leben glauben, es ist nicht hier. Ihr Verhalten gehört zu einem ganz
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