Die da kommen
Das Schnalzen und Tuten erinnert mich an das sanfte Gegacker von Hennen. Ein kleines, blondes Mädchen scheint die Anführerin der Gruppe zu sein: Sie erteilt eindeutig die Befehle. Freddy wirkt ängstlich, dann schließt er sich den anderen in einer seltsamen Pantomime an, die aus wilden Grabebewegungen besteht.
»Solche Rollenspiele beobachten wir hier ständig«, erklärt Naomi. »Victor meint, es hätte mit Nahrung zu tun. Jäger und Sammler. Ach, übrigens, Hesketh, ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut wegen Kaitlin. Die arme Steph. Sie ist am Boden zerstört.«
»Sie sind ein Liebespaar.« Eigentlich hatte ich gar nicht geplant, das zu erzählen. Es ist einfach aus mir herausgebrochen.
»Ich weiß.«
»Also sind Sie auch lesbisch?«
Sie lacht. »Diese Schlussfolgerung verstehe ich nicht. Nein, zufällig nicht. Wobei Sie das nichts angeht.«
Jetzt würde ich gerne noch wissen, ob sie einen Freund hat, aber da das auch unter »Das geht Sie nichts an« fallen könnte, frage ich: »Haben Sie Kinder?«
Sie schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht zu einem reumütigen oder auch belustigten Ausdruck. Das kann ich nicht so genau erkennen. »Nein. Und wissen Sie was? In letzter Zeit bin ich ziemlich froh darüber.« Ist es das, was Freud als Galgenhumor bezeichnet hat? »Schauen Sie sie an.« Sie deutet mit einer weit ausholenden Bewegung auf die Kinder. »Eine neue Generation unhygienischer, insektenfressender Mörder. Damit wäre die Bevölkerungskrise gelöst. Wissen Sie, dass die Kondomverkäufe in ungeahnte Höhen geschossen sind? Und dass Menschen Schlange stehen, um sich sterilisieren zu lassen?«
Ich erstelle im Geiste ein Ablaufdiagramm. »Na ja, es wäre sicher gut für die Nachhaltigkeit.« Ich erinnere mich an mein Gespräch mit der Schweizer Demografin. »Aber auf kurze Sicht schlecht für die Wirtschaft.«
Sie lacht. »Da geht die Leidenschaft ganz schön den Bach runter.«
Ich werfe noch einen Seitenblick auf ihre Brust. KörbchengrößeD, vermute ich. D ist gut. »Mir ist der Sexualtrieb noch nicht abhandengekommen.«
»Das merke ich. Victor hat mir von Ihren einzigartigen Fähigkeiten erzählt, wie er es nannte. Aber wir brauchen gutes Personal, und in der Not frisst der Teufel Fliegen.« Die Fältchen neben ihrem Mund sind wieder zu sehen. Ich werde nicht schlau aus ihr. Aber ich würde gerne versuchen, sie zu küssen. In diesem Moment kehrt Professor Whybray von seinem Telefonat zurück.
»Wir haben einige neue Daten, die ich überprüfen muss. Wir treffen uns im Observationsraum. Naomi, könnten Sie bitte den Rest der Führung übernehmen? Sie können den Personalraum und die Schlafsäle überspringen.« Damit ist er verschwunden.
Ich mag Naomi. Mir gefällt auch, was sich unter ihrem korallendämmerungsfarbenen Pullover befindet. Falls wir miteinander intim würden, müssten wir jedoch die farbliche Gestaltung ihrer Garderobe überdenken.
»Die Kantine.« Sie deutet auf eine Tür auf der anderen Seite des Spielplatzes. Dort drinnen haben sich an langen Tapeziertischen etwa vierzig Kinder versammelt, die grapschen und herumdrängeln. Sie tragen beigefarbene Overalls über ihren Uniformen und schaufeln sich das Essen aus neutralen Blechdosen direkt in den Mund. »Sie wollen keine Gabeln und Messer benutzen«, erklärt sie.
»Was ist in den Dosen?«
»Eine frische, nährstoffreiche Nahrung in recycelbaren Behältern zum Aufreißen. Zuerst werden die Dosen von den Kindern gründlich untersucht. Wenn eine Dose verbeult ist, rühren sie sie nicht an. Sie scheinen zu wissen, dass man von beschädigten Dosen Botulismus bekommen kann. Fast instinktiv.«
»Sie sorgen sich also einerseits um kontaminiertes Essen,haben aber andererseits kein Problem damit, lebende, ungewaschene Insekten zu essen?«
»Willkommen in unserer Welt«, sagt Naomi. Ihr Telefon klingelt. Sie nimmt das Gespräch an, hört eine Weile zu und sagt dann: »Mein Gott. Klar, bin schon unterwegs.« Sie steckt das Gerät wieder ein. »Tut mir leid, Hesketh. Es hat einen Zwischenfall gegeben.«
»Kommt das oft vor?«
»Viel zu oft. Der Observationsraum ist im dritten Stock. Wir sehen uns später.«
Das Zimmer ist geräumig. Es enthält Sitzreihen vor einer Einwegscheibe, durch die man in ein Zimmer mit zwanzig Kindern sehen kann. Von den Decken hängen Mikrofone.
»Sie werden ihre Interaktionen bemerkenswert finden«, sagt Professor Whybray und wendet sich vom Steuerpult zu mir um. Er reguliert die Lautstärke,
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