Die da kommen
besonderen Ort. Einem Ort, an dem sie sich zu Hause fühlen. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto mehr stimmen sie sich aufeinander ab, und desto mehr Zeit verbringen sie in der … anderen Welt.«
Ja, denke ich. Freddy ist in einer anderen Welt. Einer Parallelwelt, in der eigene Regeln herrschen. Einer Welt ohne Erwachsene, Toiletten, frisches Essen, einer Welt mit einer eigenen Landschaft und eigenen Requisiten, eigenen Mineralien, Nahrungsquellen, Riten und Ritualen, der Geste als Passwort, eigenen Hierarchien, eigenen unanfechtbaren Geboten.
Stephanie kommt erschöpft nach Hause. Sie geht geradewegs in die Küche, öffnet eine Flasche Wein und gießt sich ein Glas ein. Sie nickt mir zu. »Auch eins?«
»Nein. Aber hier ist etwas zu essen, falls du möchtest.«
»Ich habe dir Kaitlins Auto mitgebracht.« Sie wirft mir die Schlüssel zu.
»Sollen wir nach Freddy sehen? Vielleicht ist er noch wach.« Er ist auf dem Heimweg eingeschlafen. Als Miranda uns absetzte, habe ich ihn kurz geweckt, um ihn ins Haus zu bringen. Dann sind wir sofort nach oben gegangen.
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich ein Mensch bin, Hesketh. Es fällt mir schwer. Erwarte keine Wunder. Lass uns essen.«
Ich habe einen von Kaitlins Auberginenaufläufen aufgetaut, den ich in der großen Gefriertruhe im Keller gefunden habe.Ich gebe Stephanie einen Teller. Wir essen schweigend, ohne einander anzuschauen. Ich spüre, wie mein Zorn wächst. Schließlich sage ich: »Er ist nur ein Kind. Er befand sich in einer dissoziativen Fugue, als er Kaitlin angegriffen hat. Du als Psychologin dürftest doch damit vertraut sein, oder? Es heißt, dass er sich seiner eigenen Handlungen nicht bewusst war und daher nicht gänzlich dafür verantwortlich ist.« Sie spielt mit einer Gabel voller Essen und antwortet nicht. »Es ist immer noch Freddy. Seine DNA hat sich nicht verändert. Er ist derselbe Junge.« Sie trinkt ihren Wein aus und schenkt sich nach. »Wir können einen Gehirnscan machen und werden feststellen, dass es nichts Neues gibt, nichts, was nicht schon vorher da war. Es ist eine neue Phase. Er spricht weniger, das ist alles.«
Sie knallt ihr Glas auf den Tisch. »Herrgott, bist du endlich fertig? Du solltest dich mal reden hören! Er hat versucht, seine Mutter umzubringen, und deine einzige Feststellung ist, dass er weniger spricht ? Tut mir leid, Hesketh, aber Freddy ist nicht derselbe. Das gilt für all diese Kinder. Das weißt du. Wenn sich hier jemand etwas vormacht, dann du.«
»Nein. Das liegt nicht in meiner Natur.«
»Ach, nein?« Ihr Gesicht ist vom Wein gerötet. Oder vom Zorn. Oder von beidem. »Wie kommt es dann, dass du in deinem Bericht über Dubai wesentliche Informationen verschwiegen hast?« Sie funkelt mich an. »Komm schon, Hesketh. Das Mädchen auf der Baustelle.« Sie hat recht. Ich habe etwas begangen, was man als Unterlassungssünde bezeichnet. Aber ich wusste, was ich tat. Ich war mir dessen absolut bewusst. Ich schweige. »Und du hast immer noch diesen Abdruck am Arm, oder?« Eigentlich hätte er längst verblassen müssen, aber er ist immer noch so deutlich wie eine frische Tätowierung. »Was auch nicht in deinem Bericht steht. Hast du Victor Whybray schon davon erzählt?«
Ich schaue auf die Fettkreise, die die Auberginen auf meinem Teller hinterlassen haben, und beginne hin und her zu schaukeln.
Kaitlin hat mich gern als »wasserabweisend« bezeichnet, womit sie meine »undurchdringliche Haut« meinte – eine dicke Rinde, die mich nicht nur vor ihr, sondern vor dem Leben selbst schützt und gleichzeitig davon fernhält. Sollte ich wirklich »wasserabweisend« sein, bin ich dafür dankbar. Aber es beunruhigt mich, dass Stephanie Dubai erwähnt hat. Sie hat recht, ich habe mich schuldig gemacht, indem ich der Wahrheit ausgewichen bin. Oder etwas noch Schlimmeres getan habe.
Ich habe die Gestalt in Kindergröße gesehen.
Aber war sie real oder nicht? Und wenn sie de Vries und den anderen solche Angst eingejagt hat, warum dann nicht mir?
Ich habe einen Vertrag mit der Welt, und der sieht vor, dass wir alle Geheimnisse mit der nötigen Beharrlichkeit und Zeit entschlüsseln können, weil alles eine Ursache hat. Nun aber kommt es mir vor, als gäbe es zwei Welten: zum einen die Welt, die ich mein Leben lang gekannt und bewohnt habe und an der ich immer noch hänge. Und zum anderen die Welt darunter, auf die ich zwar durch Mythen und Legenden einen Blick erhascht, die ich aber nie als Ganzes
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