Die da kommen
und arbeite mich nach oben vor. Linkes Kinn. Heikle Stelle unter der Unterlippe. Mein Vater hat es mir beigebracht, so wie ich es vielleicht eines Tages Freddy beibringen werde.
»Wann wachsen einem Haare im Gesicht?«, will er wissen. »Kratzt das?«
Und für einen kurzen Moment ist der 29. September ein ganz normaler Samstag, und wir sind wieder dieselben wie früher. Ich spüle die Stoppeln ab, sehe zu, wie sie im Abfluss kreisen, und liefere Freddy Informationen, und er sitzt neben dem Waschbecken und schneidet groteske Grimassen vor dem Spiegel und spielt mit dem Rasierschaum. Und dann shampooniere ich ihm die Haare, und er beklagt sich, dass es in den Augen brennt, und es ist, als hätte man die Uhr fünf Monate zurückgestellt und seine Mutter wäre unten und hörte mit einem vollkommen funktionstüchtigen und unbeschädigten Gehirn im Radio Any Answers .
Es regnet leicht. Auf dem Weg zur Einrichtung kommen wir an einer Gruppe Kinder vorbei, die in der Nähe eines kleinen Kreisverkehrs an der A 3304 offen in einigen Mülltonnen wühlen. Die meisten tragen T-Shirts und Jeans, aber ein Mädchen ragt heraus: Sie trägt die deutlich erkennbare liebesapfelrote Uniform von Battersea. Ich kippe den Rückspiegel, damit ich Freddy anschauen kann. Er hat einen kleinen DVD-Spieler dabei und schaut sich wieder Die trockene Welt an, aber ich kann hören, dass er die DVD anhält. Er betrachtet die Gruppe eindringlich und dreht sich nach hinten, als wir vorbeigefahren sind. Einige Kinder haben die Gesichter zum Himmel erhoben und stehen mit offenem Mund da, um die Regentropfen aufzufangen.
»Was ist los, Freddy K?«
»Manche von uns können gehen, wohin sie wollen. Nach draußen.«
»Das kannst du doch auch. Auf den Spielplatz. Und zu Hause hast du den Garten.« Er sagt nichts, sondern verschränkt die Arme und schiebt die Unterlippe vor. »Hat es dir gestern nicht gefallen? Ich habe dich doch mit Hattie spielen sehen.« Der kleinen Insektenfängerin.
»Das war kein Spielen.«
»Was denn sonst?«
»Ich muss Sachen für sie machen.«
»Was für Sachen?«
»Was immer sie will, hat sie gesagt. Das ist majd. «
Meine Hände umklammern das Lenkrad. »Freddy K, weißt du, was majd bedeutet?«
Ich beobachte ihn im Rückspiegel. Er zuckt mit den Schultern. »Nicht so richtig.«
»Es ist ein arabisches Wort und bedeutet Ehre.« Ich habe gehört, dass andere Kinder es auch benutzen. Es klingt immer wie eine Drohung. »Fühlt es sich wie eine Ehre an, das zutun, was Hattie sagt?« Im Spiegel sehe ich, wie ein Ausdruck, den ich nicht erkenne, über sein Gesicht huscht. Nervosität? Angst? »Freddy K? Weißt du, was Ehre ist?«
Aber er hat die DVD wieder eingeschaltet und befindet sich in der Welt der Eidechsen und Skorpione. Als ich ihn auf dem Spielplatz absetze, dreht er sich nicht einmal um, um mir zu winken.
Eine halbe Stunde später bin ich im St Thomas’ Hospital. Im Empfangsbereich wimmelt es von Menschen, die meisten scheinen sich in einem Zustand der Verzweiflung zu befinden. In den Fluren vor den Fachabteilungen haben sich lange Schlangen gebildet.
Es ist eine Sache, etwas zu wissen. Eine ganz andere ist es, etwas mit eigenen Augen zu sehen.
Dahinvegetieren . Mit Vegetation hat das nichts zu tun.
Kaitlin liegt auf einer Station im fünften Stock. Das hohe Bett hat Gitter an den Seiten, ihr Kopf wird von einer gepolsterten Klammer gehalten, die sie zwingt, gerade nach oben zu schauen. Seltsam, sie tagsüber ungeschminkt zu sehen. Ihr Ausdruck ist so leer, dass ihr Gesicht fast wie ein Foto erscheint. Wäre da nicht die Bewegung ihres linken Auges, das ein Eigenleben zu führen scheint. Sein Blick wandert umher, als suchte er nach einem Platz, auf dem er sich niederlassen kann. Ihr Haar ist nicht mehr dunkel, es hat fünf oder sechs verschiedene Grauschattierungen angenommen. Die Veränderung muss im Krankenhaus geschehen sein. Man hört davon, wenn auch meist als Phänomen in Geistergeschichten, in denen es um Spukschlösser mit knarrenden Türen geht . Ihr Haar ist über Nacht weiß geworden. Eine einzelne Strähne, heller als die übrigen – Esche hell –, ringelt sich in ihre Stirn. Es erinnert mich an Indira Gandhi. Ihre Haut schimmert feucht. So sah sie immer aus, wenn sie Feuchtigkeitscremeaufgetragen hatte. Aber ich glaube nicht, dass sie das jetzt gemacht hat. Dazu wäre sie nicht in der Lage, und außerdem würde ich es riechen. Bevor ich offiziell zum Hahnrei wurde, habe ich sie gern auf die
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