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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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Sprachfähigkeit herauszufinden«, sagt der Professor leise. »Na los.« Wir nähern uns mit kleinen Schritten der Gruppe und stehen bald in ihrer Mitte. Der Regen strömt weiter herab. Sie achten nicht darauf, neigen nur gelegentlich den Kopf nach hinten und trinken so wie der Junge, den wir vorhin beobachtet haben. Unsere Größe ist ein Hindernis, weshalb wir uns auf ein Zeichen des Professors hinhocken, bis wir mit den Kindern auf Augenhöhe sind. Ich bemerke, dass sich das kleine Mädchenmit den roten Haaren zu ihm umgedreht hat. Ich stoße ihn an, und er schaut hin. Er fängt den Blick des Mädchens auf und lächelt.
    »Wie heißt du?«, fragt er. Doch sie antwortet nicht und gräbt weiter.
    »Verpiss dich, lap-sap «, sagt ein Junge leise. Wir drehen uns um. Er ist mager und dunkelhaarig. Das Gesicht des Professors verändert sich. Ein weiterer Junge, der knietief im Wasser steht, blickt auf. »Verpiss dich, lap-sap «, wiederholt der erste Junge. Der zweite ahmt ihn nach. Die Betonung ist genau gleich, als würden sie automatisch auf die Gegenwart von Erwachsenen reagieren. Dann setzt von allen Seiten ein leises Summen ein. Zuerst eine Stimme, dann die nächste, schließlich ein ganzer Chor. Eine kehlige, tonlose Wand aus Lauten. Ich erinnere mich an das Mädchen auf dem Wolkenkratzer in Dubai, bevor de Vries hinuntersprang. Ich sage drängend: »Wir sollten gehen, Professor Whybray. Jetzt.«
    Er seufzt. »Frustrierend. Aber Sie haben wohl recht. Gehen wir es langsam an.«
    Da sehe ich das rothaarige Mädchen neben ihm. Sie streckt plötzlich die kleine, verschmutzte Hand aus und schiebt sie in seine. Er hält verwundert inne. »Sehen Sie sich das an«, sagt er lächelnd. Doch Sekunden später wird uns klar, dass sie nicht auf Gesellschaft aus ist. Sie will etwas anderes. Mit der anderen Hand befingert sie seine Hemdmanschette, als wollte sie den Ärmel aufrollen. »Was willst du? Möchtest du mit uns kommen? Du kannst in der Einrichtung bleiben. Deine Freunde auch.«
    Sie hat den Knopf geöffnet, seinen Ärmel hochgeschoben und untersucht jetzt seinen Unterarm. Uns ist nicht klar, was sie daran so interessant findet. Dann senkt sie das Gesicht und schnüffelt.
    »Gehen wir«, dränge ich. »Die Stimmung kann jederzeit umschlagen.«
    Doch der Professor rührt sich nicht. Er ist fasziniert. Oder verzaubert. Das kleine Mädchen öffnet den Mund, sodass man die Zunge sieht, und beginnt sanft, aber beharrlich seine Haut abzulecken. Er rührt sich noch immer nicht. Beobachtet sie eindringlich. »Sie ist auf das Salz aus«, flüstert er.
    »Verpiss dich, lap-sap «, sagt einer der Jungen. Das Summen um uns herum wird drängender, unterbrochen von kehligen Klicklauten. Das Mädchen leckt immer noch den Arm des Professors ab, doch er steht jetzt auf und versucht, sie sanft von sich zu lösen. Sie hält sich an ihm fest und leckt weiter.
    »Verpiss dich, lap-sap «, sagt der Junge wieder, und andere Stimmen fallen ein, bis ein Chor anschwillt: »Verpiss dich, lap-sap, verpiss dich, lap-sap, verpiss dich, lap-sap.«
    Dann, wie auf ein unausgesprochenes Signal hin, stürzen sie sich auf uns, greifen nach unseren Armen und lecken unsere Hände ab wie kleine Tiere. Das Summen ist zu einem heftigen, intensiven Surren geworden. Wir sind größer und kräftiger als sie, aber sie sind überall. Bisher habe ich mich nicht verwundbar gefühlt. Jetzt schon. In diesem Moment ertönt von irgendwo über uns ein Schrei. »Treten Sie zurück, Sir!«, ruft der Mann in der Regenjacke. »Und Sie auch! Weg von ihnen, alle beide!«
    »Kommen Sie!«, rufe ich dem Professor zu. Ich habe mich irgendwie befreit und bin schon halb die Stufen hoch. Ich sehe, dass er seine Gruppe von Kindern fast abgeschüttelt hat, doch als er ausholt, um sich von der letzten kleinen Hand zu befreien, stolpert er und fällt stöhnend zu Boden. Ich schieße vor, reiße ihn hoch und zerre ihn mit mir zur Treppe.
    »Gesicht bedecken, nicht einatmen!«, befiehlt der Mann in der Regenjacke. Als wir fast oben sind, saust etwas an unsvorbei und landet unterhalb von uns im Sand. Die Kinder kreischen und zerstreuen sich. Als wir oben sind, sehe ich Dampf, der aus einem Behälter austritt.
    Tränengas.
    Die Kinder unter uns schreien.
    »Weg hier!«, ruft der Mann in der Regenjacke, während wir zum sicheren Auto laufen. Er und sein Begleiter haben Gesichtsmasken aufgesetzt. Ich hauche ein lautloses »Danke«.
    Als wir wegfahren, sehe ich im Rückspiegel, wie der

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