Die Daemmerung
an und dachte an den Moment, der jetzt ein ganzes Funderlingsleben her schien, da der Sack noch zu und Flint noch eine unbekannte Größe gewesen war.
Und wenn wir den Sack nicht geöffnet hätten? Wenn ich Opalia einfach fest am Arm gefasst und weitergezogen hätte — wenn wir das Problem jemand anderem überlassen hätten? Wäre dann jetzt alles anders? Besser ... oder schlechter?
Denn man kam ja kaum um die Annahme herum, dass Flints Auftauchen etwas mit all den übrigen sonderbaren Dingen zu tun hatte, die in ihr Leben und das Leben aller, die sie kannten — Funderlinge wie Großwüchsige —, eingebrochen waren.
Er seufzte. Wie das Sprichwort sagte: Wer
anfängt
zu
scharren, wird im Schweiße seines Angesichtes graben.
»Nun gut«, sagte er zu dem Jungen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Bruder Nickel. Spross einer einflussreichen Funderlingsfamilie, war er erst vor kurzem vom Novizen zum Kainiten geweiht worden, einem gewöhnlichen Tempelmönch, doch jeder — und vor allem Nickel selbst — wusste, dass er zum Nachfolger des Abtes ausersehen war, und meistens benahm er sich, als hätte er bereits die Zeremonialhacke übernommen. »Schon jetzt hat Eure kleine Gruppe hier alle Traditionen und Gebräuche auf den Kopf gestellt. Frauen, Kinder, Großwüchsige, Flüchtlinge — wir scheinen alles aufzunehmen. Wenn Zinnober und die Zunft nicht schwören würden, dass es unbedingt sein muss ...«
»Aber sie schwören es«, sagte Chert. »Bitte, Nickel, sagt uns einfach nur, wohin. Wir sind Euch für Eure Hilfe sehr dankbar, wollen Euch aber nicht mehr Zeit stehlen als nötig ...«
»Euch einfach ohne Aufsicht hingehen und ... unseren ältesten Mitbruder
ausfragen
lassen?« Nickel straffte sich. »Wohl kaum. Ich werde Euch selbst zu ihm bringen. Er ist alt und gebrechlich. Wenn ihn Eure Fragen aufregen, ist das Gespräch beendet. Verstanden?«
»Ja, natürlich.«
Chaven, der Arzt, der dabeigestanden und die Diskussion mit einigem Interesse verfolgt hatte, räusperte sich. »Ich glaube, ich werde auch mitgehen — wenn es Euch nicht stört, Chert?«
»Wenn es
Chert
nicht stört?« Für einen so vergleichsweise jungen Mann schien Nickel viel zu dunkelrot im Gesicht. »Und was ist mit der Metamorphose-Bruderschaft? Oh, nehmen wir doch einfach alle mit, die mitwollen! Vielleicht erklären wir es einfach zur Prozession, wie am Tag des Erstgegrabenen Gangs — holen alle Einwohner herbei und veranstalten einen Zug in die Gärten, um den armen alten Mann zu überraschen!
»Ihr übertreibt wohl ein wenig, Bruder Nickel«, sagte Chaven liebenswürdig. »Ich bin immerhin Arzt. Wäre es da nicht sinnvoll, mich mitzunehmen, wenn Ihr um Großvater Sulphurs Gesundheit besorgt seid? Und der Knabe Flint stand auch schon unter meiner ärztlichen Obhut. Ja, ich halte es für ausgesprochen gut, dass ich mitkomme.«
Chert lächelte, aber das Ganze ging ihm jetzt schon reichlich auf die Nerven, und dabei hatte es noch nicht mal richtig begonnen. Warum hatte er das Gefühl, ständig anderen Leuten zu helfen, das zu bekommen, was
sie
wollten?
»In diesem Teil des Tempels war ich noch nie«, sagte Chaven, als sie sich durch eine niedrige Höhle voller bizarrer Kalksteinformationen schlängelten, einem Weg folgend, den nur Nickel auszumachen vermochte.
»Warum hättet Ihr auch sollen?«, fragte der Metamorphose-Bruder. »Hier passiert doch nichts, was für Euch von Interesse wäre. Das hier sind die Gärten und Anlagen, wo wir unsere Nahrungsmittel ziehen. Wir hatten hier schon fast hundert Mäuler zu stopfen, bevor Ihr alle kamt.«
Und bald werden noch viel mehr kommen,
dachte Chert.
Wenn ihr Glück habt, sind es Funderlinge und keine Zwielichtler.
Doch er sagte es nicht laut.
»Ja, aber wisst Ihr, mich interessieren solche Dinge«, sagte Chaven. »Ein wahrer Wissenschaftler hört nie auf zu studieren. Bitte seid nicht so streng, Bruder Nickel. Wir sind froh, dass Ihr uns aufgenommen habt. Dies sind Zeiten des Krieges und noch seltsamerer Dinge. Da müssen die braven Leute alle zusammenhalten.«
Nickel schnaubte, doch als er wieder sprach, klang es etwas höflicher. »Das da ist der Weg zum Salzbergwerk. Es ist nur eine kleine Mine, liefert uns aber genügend Salz für den eigenen Bedarf und um es oben in der Stadt gegen andere Bedarfsgüter einzutauschen.«
Nur Flint schienen die Höhle und ihre grotesken Gebilde aus gewachsenem Stein nicht zu interessieren. Seine Miene war
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