Die Daemmerung
Augen verengten sich. »Wie meinst du das?«
»Die Träume von der Schildkröte — die Träume, in denen die Stimme des Gottes selbst zu Euch gesprochen hat. Solche Träume habt Ihr
nicht
immer schon geträumt — oder?«
»Ich habe mein Leben lang von den Göttern geträumt ...«, sagte der alte Mann stolz.
»Wann sind die Träume anders geworden? Wann sind sie so ... dringlich geworden?«
Wieder schien eine stumme Verständigung zwischen Flint und dem alten Mönch stattzufinden. Schließlich erschlaffte Sulphurs runzliges Gesicht. »Vor einem Jahr oder mehr, gleich nach der Kältezeit. Da habe ich das erste Mal von der Schildkröte geträumt. Da begann ich Seine Stimme zu hören.«
»Und was war, unmittelbar
bevor
diese Träume begannen?« Flint sprach so sanft, als wäre er der Priester und der alte Mann ein bedrückter Sünder. »Ihr habt etwas gefunden, oder jemand hat Euch etwas gegeben — war es nicht so?«
Chert war doch etwas verstört angesichts dieser jüngsten Verwandlung des Kindes, in das er und Opalia so große Hoffnungen gesetzt hatten. Was war diesem Jungen hinter der Schattengrenze widerfahren? Und wichtiger noch, war er überhaupt ein Junge und nicht womöglich irgendeine Sorte Zwielichtler, die nur
aussah
wie ein Kind? Welche Art Natter hatten sie da an ihrem Busen genährt?
»Ja, was?«, fragte Chaven mit einem begierigen Unterton. »Was war da?«
Sulphur machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich weiß nicht, was ihr meint. Ich bin jetzt müde. Geht weg.« Auf seinem Schoß wurde Iktis, der Iltis, nervös. Keckernd verschwand das Tier im Ärmel des Alten.
»Das reicht?«, sagte Nickel. »Ihr müsst jetzt gehen?«
»Niemand wird es Euch wegnehmen«, sagte Flint, als hätte keiner etwas gesagt. »Das verspreche ich Euch, Großvater. Aber sagt mir die Wahrheit. Selbst die Götter müssen die Wahrheit respektieren.«
»Schluss jetzt?« Nickel sah aus, als wollte er den Jungen packen und wegziehen, doch Chert hielt den Mönch zurück.
Das Schweigen des alten Mannes war so lang und so tief, dass sie jetzt erstmals das Knarren der Leitern am anderen Ende der Höhle hörten. Und sie hörten auch das Flüstern der anderen Metamorphose-Brüder, denen nicht entgangen war, was sich in der Mitte des Pilzgartens abspielte. Sulphur sah auf die knotigen Hände in seinem Schoß.
»Mein kleiner Iktis hat es gefunden«, sagte er schließlich so leise, dass alle außer Flint sich vorbeugten. »Er hat es mir gebracht, hat es den ganzen Weg hierher geschleppt. Er liebt glänzende Dinge, und manchmal läuft er bis in die Stadt. Ich musste schon manches Frauenarmband und manche Halskette mit den Brüdern, die zum Markt gehen, zurückschicken. Manchmal wagt sich Iktis sogar an die Oberfläche. Und manchmal wagt er sich ... tief hinab.«
»Könnt Ihr es mir zeigen?«, fragte ihn Flint. »Ich verspreche Euch, niemand nimmt es Euch weg.«
Wieder zog sich das Schweigen hin. Schließlich griff Sulphur in sein dickes Gewand, dessen Falten allesamt einen weißen Grat von Schimmel hatten. Iktis, noch immer im Ärmel des Alten verkrochen, ließ ein Protestgekecker los, als Sulphur etwas Glänzendes hervorzog, das an einer Schnur aus geflochtenen Rattenhautstreifen um seinen Hals hing.
»Es ist meine Lupe«, sagte er. »Ich wusste sofort, als ich es sah, dass es für mich bestimmt war.«
Es war das Ding, das er vorhin in der Hand gehalten hatte, ein kleines, dünnes Stück Kristall in einem unregelmäßigen silbrigen Metallrahmen, der offensichtlich um die natürliche Form des Kristalls gearbeitet und mit komplizierten, feinen Gravuren versehen war, die nicht einmal Cherts scharfsichtige Augen richtig erkennen konnten. Das Metall war keins, das er kannte, und auch die Art der Metallschmiedearbeit und sogar der Kristall selbst schienen ihm fremd, obwohl das im Schummerlicht des Pilzgartens schwer feststellbar war.
Chaven holte tief Luft. »Das ist Qar-Arbeit«, sagte er träumerisch. »Ja. Die Stimme der Schildkröte. Ein Käfig für eine weiße Eule. Ja, natürlich ...«
»Und als Euch das Tierchen das hier gebracht hat«, sagte Flint ganz ruhig, »da begannen dann die Träume vom Herrn des Heißen Nassen Steins.«
»Aber von den Göttern habe ich immer schon geträumt?«
»Lasst mich mal ...« Chaven streckte die Hand in Richtung des ahnungslosen Sulphur: Der Atem des Arztes ging keuchend, sein Blick war starr wie der eines Schlafwandlers. »Ja, lasst mich ...« Seine Stimme war jetzt heiser, ein lautes
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