Die Daemmerung
einen Moment, hier draußen auf dem gesichtslosen, weglosen Meer, umgeben von Feinden, hatte sie das Gefühl, auf etwas Wahres gestoßen zu sein.
Ohne etwas zu tun zu haben und ohne ausreichendes Essen schlief Qinnitan schlecht. Abends lag sie oft, unter ihrer dünnen Decke verkrochen, stundenlang wach, bemüht, sich nicht auszumalen, was der Autarch für sie bereithielt, sondern einfach nur auf den erlösenden Schlaf zu warten. Morgens ließ sie die Augen noch geschlossen, auch wenn sie längst wach war, lauschte dem Schreien der Seevögel und betete darum, wieder einzuschlafen, sich wenigstens für kurze Zeit noch einmal ins Vergessen flüchten zu können, was jedoch selten geschah. Oft wachte sie schon auf, wenn selbst ihr Entführer noch schlief und nur Vilas oder einer seiner Söhne Ruderwache hatte.
Nachdem sie den Namenlosen ein paar Tage beobachtet hatte, kam Qinnitan zu dem Schluss, dass er ein Mann mit festen Gewohnheiten war. Er wachte jeden Morgen zur selben Zeit auf, genau dann, wenn die erste kupfrige Morgenröte vom östlichen Horizont emporblutete. Dann, sofort nach dem Aufstehen, machte er eine Reihe Dehn- und Streckübungen, absolvierte eine nach der anderen, so berechenbar wie die große Uhr am Hauptturm des Obstgartenpalasts, als bestünde er aus ineinandergreifenden Rädchen statt aus Fleisch und Blut. Anschließend, während Qinnitan sich schlafend stellte und ihn durch schmale Augenschlitze beobachtete, zog dieser blasse, unauffällige Mann, in dessen Händen ihr Leben lag, ein kleines, schwarzes Fläschchen aus seinem Mantel, entfernte den Stopfen, tunkte etwas, das wie eine Nadel oder ein kleines Stäbchen aussah, hinein, zog es wieder heraus und leckte das, was daran haftete, ab. Danach wurde das Fläschchen sorgsam verschlossen und verschwand samt der Nadel wieder in seinem Mantel. Daraufhin aß er im Allgemeinen etwas Dörrfisch und trank ein wenig Wasser. So ging es Morgen für Morgen, die Dehnübungen, das Fläschchen, ohne Abweichung.
Was war in dem schwarzen Fläschchen? Qinnitan hatte keine Ahnung. Es sah aus wie Gift, aber warum sollte jemand freiwillig Gift nehmen? Vielleicht war es ja irgendein starkes Elixier. Doch wenn ihr das Ritual auch rätselhaft war, so war es doch etwas, worüber sie nachdenken konnte — lange und gründlich. Seit sie sonst nichts mehr hatte, hortete Qinnitan Gedanken wie ein Geizhals Münzen.
Qinnitan lag still da, die Augen geschlossen, doch sie war inzwischen so sensibel für tageszeitbedingte Temperaturveränderungen, dass sie die erste Wärme des nahenden Morgens sanft auf ihrem kalten Gesicht spürte.
Wie konnte sie ihrem Entführer entfliehen? Und wenn das nicht gelang, wie konnte sie ihrem Leben ein Ende machen, ehe er sie dem Autarchen übergab? Selbst ein so grässlicher Tod wie der von Luian wäre dem vorzuziehen — das Erdrosseln durch den Vollstrecker war wenigstens relativ schnell gegangen. Was sie fürchtete, war das, was die Diener des Autarchen mit ihr machen würden, solange sie noch lebte. Sie hörte, wie das Glasfläschchen wieder verschlossen wurde, dann zu ihrer Verblüffung die Stimme ihres Entführers.
»Ich weiß, dass du nicht mehr schläfst. Dein Atem geht anders. Hör auf, so zu tun.«
Qinnitan schlug die Augen auf. Er starrte sie an, und seine Augen blitzten seltsam, fast als ergötzte er sich an einem Witz, den nur er verstand. Als er das Fläschchen in den Mantel steckte, bewegten sich die Muskelstränge seiner Unterarme wie Schlangen unter der Haut. Er war fürchterlich stark, das wusste sie, und schnell wie eine Katze. Wie konnte sie hoffen, ihm jemals zu entkommen?
»Wie heißt Ihr?«, fragte sie ihn vielleicht zum hundertsten Mal. Er betrachtete sie, die Oberlippe vor Belustigung leicht gekräuselt.
»Vo«, sagte er plötzlich. »Das heißt ›von‹. Aber ich bin nicht ›von‹ irgendetwas. Ich bin das Ende, nicht der Anfang.«
Qinnitan war so verdutzt, dass sie erst einmal nicht wusste, was sie sagen wollte. »Das ... das verstehe ich nicht.« Sie rang darum, ihre Stimme ruhig zu halten, als ob es nicht weiter außergewöhnlich wäre, dass dieses wortkarge, eiskalte Ungeheuer etwas über sich preisgab. »Vo?«
»Mein Vater war aus Perikal. Sein Vater war ein Baron. Der Familienname war ›Vo Javandil‹, aber mein Vater hatte ihn entehrt.« Er lachte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, dachte sie, er hatte etwas seltsam Fiebriges. Sie fürchtete sich schon fast vor einem Fortgang des Gesprächs. »Also
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