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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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Weile ließ Chert, da sie jetzt so weit vom Tempel weg waren, dass Schweigen ratsamer schien als unnötiges Reden, das Thema fallen.
    Sie suchten in den dunklen Bereichen seitlich der Kaskadentreppe bis hinauf zur Ebene unter dem Salzsee, machten dann Rast und aßen Pilze und etwas geräucherten Maulwurf, den Chert als Leckerei für unterwegs mitgenommen hatte. Danach hatten sie Durst, also stiegen sie die mächtige Treppe noch ein Stückchen weiter hinauf bis an eine Stelle, wo die abfallende Kaverne ein natürliches Loch zu einem Grundwasserleiter hatte — das, was die Funderlinge einen »Brunnen der Alten« nannten. Anders als der Salzsee, der von der Bucht hereinsickerte und dessen Spiegel nie höher war als der des Meeres, waren die Brunnen der Alten voll mit Süßwasser — Regenwasser, das vom Midlanfels herabsickerte. Tatsächlich machten diese Grundwasserleiter das Leben auf der Felsinsel erst möglich, auch für die Großwüchsigen, die ihre eigenen Brunnen hinabgruben.
    Während er zusah, wie Flint am Rand des Grundwasserlochs kniete, mit den Händen schöpfte und mit seiner üblichen hochgradigen Konzentration trank — so als täte er etwas, das er noch nie getan hatte —, dachte Chert darüber nach, wie kompliziert doch die einfachsten Dinge des Lebens waren. Hier: Süßwasser. Nur ein paar hundert Ellen darüber: das Salzwasser der Brennsbucht. Allein der Kalkstein des Midlanfels hielt beides getrennt, und wenn sich das je änderte — etwa durch ein Erdbeben, was es ja auf den südlichen Inseln häufig gab, hier allerdings, seit Chert denken konnte, nie gegeben hatte —, dann würde sich alles ändern: Die Bucht würde alles fluten, was tiefer lag als der Salzsee, und sämtliche Mönche und sonstigen Personen im Tempel ertränken. Viele der tieferen Süßwasserquellen wären nicht mehr trinkbar.
    Doch trotz dieses labilen Gleichgewichts war das Leben hier über Jahrhunderte im Großen und Ganzen unverändert weitergegangen. Mit Hilfe der Blauquarzschen Familientafeln konnte Chert seine Abstammung fast zehn Generationen zurückverfolgen, und einige reiche und bedeutende Familien behaupteten sogar, hundert Ahnengenerationen zu kennen.
    Aber würde die nächste Generation das auch noch sagen können? Oder würden sie ihre Funderlingsgeschichte in irgendwelchen armseligen Erdlöchern hersagen, nachdem die Qar ihre alte Heimat zerstört hatten? Würden die Funderlinge künftiger Tage wild in unbearbeiteten Höhlen leben, so wie es laut einigen der exzentrischeren Philosophen ihre Urahnen einst getan hatten?
    Chert merkte plötzlich, dass Flint nicht mehr trank, sondern direkt vor ihm stand und ihn mit diesen ruhigen, großen Augen anstarrte. »Hast du das gehört?«, fragte er. »Ich dachte eben, da stöhnt jemand.«
    »Könnte es Chaven sein?«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Zu mächtig. Zu tief«
    »Wahrscheinlich nur Erdgeräusche. Entschuldige, Junge. Ich habe über Wasser und Stein nachgedacht — worüber ein alter Steinhauer wie ich nun mal so nachdenkt.«
    »Das hier ist Muschelstein«, erklärte der Junge ernst und zeigte ihm einen hellen, unregelmäßig geformten Stein. »Die Sorte Kalkstein mit Muscheln drin.«
    Chert lachte und stand auf »Freut mich, dass du aufgepasst hast. Braver Junge.«

    Nachdem sie in den Hallen um die Kaskadentreppe keine Spur von Chaven und auch sonst nichts Außergewöhnliches gefunden hatten, ging Chert mit Flint wieder hinunter, am Tempel vorbei und durch die Fünf Bögen in das komplizierte Netz von Gängen, das ins Labyrinth hinabführte. Näher würde er den Mysterien natürlich nicht kommen — er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, den Jungen in diesen verwirrenden Tiefen irgendwie aus den Augen zu verlieren —, aber wenn Chaven irgendwo unterhalb des Tempels verschollen war, galt es am ehesten hier zu suchen. Sicher, das Labyrinth selbst war noch verwirrender, doch wenn der Arzt so weit hinabgelangt war, bräuchte Chert für eine richtige Suchaktion die Hilfe der Brüder: Er hatte nicht vergessen, wie es ihm an diesem finsteren Ort ergangen war.
    Etwa eine Stunde später stand Chert gerade an einer Ganggabelung und dachte, dass es wohl Zeit war, aufzugeben und zum Tempel zurückzugehen, wenn sie noch Chancen auf ein Abendessen haben wollten, als er plötzlich merkte, dass Flint nicht mehr hinter ihm war.
    Er rannte den Gang zurück, von wachsender Furcht erfüllt. »Flint?«, rief er. »Junge? Wo bist du?« Er schalt sich immer wieder selbst,

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