Die Daemmerung
Funderlingsratsherr seufzte und sank in seinem Stuhl zurück. »Aber, die Alten der Erde mögen mir verzeihen, ich wünschte dennoch, diese Bürde wäre einer anderen Generation zugefallen.«
Chert blickte von Gesicht zu Gesicht. »Ich verstehe überhaupt nichts. Kann mir bitte jemand erklären, worum es geht?«
Trotz seiner relativen Jugend hatte Nickel ein sehr viel älteres Gesicht, und jetzt sah er aus, als hätte er gerade in den sauersten Rettich einer missratenen Ernte gebissen. »Das ist ... nicht das erste Mal, dass die Zwielichtler in die Mysterien einzudringen versuchen. Sie waren schon oft dort.«
Chert konnte ihn nur anstarren. »Was?«
»Wie ich gerade sagte«, fauchte Nickel. »Sie waren schon so lange immer wieder dort, wie die Aufzeichnungen der Metamorphose-Brüder zurückreichen. Die Zunftältesten haben es gewusst und mehr oder minder geduldet — es ist eine komplizierte Sache. Aber dann hörte es plötzlich auf, und das letzte Mal ist lange her. Zweihundert Jahre mindestens.«
Chert schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nichts. Was haben sie in den Mysterien gemacht?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Zinnober. »Eine alte Geschichte besagt, dass sich einmal ein paar Mönche in die Mysterien hinabschlichen, um herauszufinden, was die Zwielichtler — oder die Qar, wie sie sich selbst nennen — dort wollten, doch in der Geschichte heißt es, dass diese Männer den Verstand verloren. Die Zwielichtler kamen nur selten — alle hundert Jahre vielleicht — und immer als kleine Gruppe, vielleicht wurde es ihnen ja deshalb gestattet. Es war schon eine alte Tradition, als vor siebenhundert Jahren die erste Steinhauerzunft gegründet wurde. Sie kamen immer durchs Kalksteintor, von der längsten von Sturmsteins Straßen, der, die zum Festland hinüberführt. Sie blieben nur ein paar Tage, nahmen nie irgendetwas Wertvolles mit, beschädigten nichts und taten niemandem etwas zuleide. Lange Zeit ließen unsere Vorfahren sie gewähren, heißt es jedenfalls. Dann, nach der Schlacht von Kaltgraumoor, kamen die Qar nicht mehr.«
»Aber wenn sie einen Zugangsweg hatten, warum haben sie ihn dann diesmal nicht wieder benutzt?«, fragte Chert.
»Weil wir das Kalksteintor nach dem zweiten Zwielichtlerkrieg versiegelt haben«, sagte Bruder Nickel mit einem ärgerlichen Schnauben. »Sie hatten sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen. Deshalb müssen sie sich jetzt von der Oberfläche hinabgraben. Und deshalb setzen sie alles daran, in unsere heiligen Mysterien zu gelangen?«
Chert massierte sich die Stirn, als wollte er das, was er gerade gehört hatte, in eine verdaulichere Form kneten. »Selbst wenn das stimmt, erklärt es doch nicht das
Warum,
Nickel. Weiß denn niemand, was sie dort unten wollten oder warum man sie überhaupt in den Mysterien geduldet hat?«
Zinnober nickte. »Tatsächlich sieht es so aus, als hätten die Qar in längst vergangenen Zeiten beim
Bau
der Mysterien geholfen — nein, tut mir leid, Nickel, ich wollte nichts Lästerliches sagen. Ich meine, dass sie geholfen haben, die Stollen und Hallen der Tiefe zu bauen, nicht die Mysterien selbst.«
»Felsriss und Firstenbruch!« Chert fühlte sich, als hätte ihn eine Gerölllawine erwischt, als würde er davongetragen, immer weiter hinab und weg von allem, was er kannte. »Und das erfahre ich erst jetzt? Bin ich der Einzige in ganz Funderlingsstadt, der es nicht wusste?«
»Mir ist es auch neu«, sagte Kupfer. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Es ist uns allen neu, selbst mir«, sagte Zinnober. »Die Zunftvorsteher Sard und Travertin haben mich zu sich gerufen und es mir erzählt, jetzt erst, bevor sie mich hierherschickten. Bisher wussten es nur Zunftvorsteher und einige wenige Auserwählte aus dem engsten Führungskreis der Zunft. Nickel kann das bestätigen.«
»Stimmt«, sagte Nickel. »Mir hat es der Abt erzählt, als er krank wurde. ›Jetzt ist die Zeit eines jungen Mannes‹, hat er zu mir gesagt. ›Ich bin zu alt, um diese Geheimnisse weiter für mich zu behalten.‹« Der Mönch sah missmutig drein. »Man hat mir schon nettere Geschenke gemacht.«
»Wie das alte Sprichwort sagt: ›Wir bewahren Großvaters Axt nicht deshalb auf, weil sie sich in der Eingangshalle hübsch ausnimmt«‹, erklärte ihm Zinnober. »Auf uns ruht das Vertrauen aller, die vor uns waren, und aller, die nach uns sein werden. Wir müssen das Rechte tun.«
»Dann müssen wir zum Herrn des Heißen Nassen Steins beten, dass Euer
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