Die Daemmerung
aber nicht jetzt. Wir haben so lange gewartet, da kommt es auf eine halbe Stunde nicht an. Geh und wasch dir den Straßenstaub ab.
Die Kammer hinter der Tür war fensterlos und voller Dampf, aber erhellt von glimmenden bernsteinfarbenen Steinen in der Wand. Ein großer, mit Wasser gefüllter Steintrog stand in der Mitte des dunkel gefliesten Bodens, und als er mit den Fingern fühlte, war das Wasser köstlich heiß. Er warf erstmals seit langer, langer Zeit seine zerrissenen, alten Kleider ab und sprang förmlich in das Bad.
Als er einige Zeit später wieder herausstieg, schien er bis in die Knochen wohlig durchglüht. Verdutzt bemerkte er, dass seine alten Kleider verschwunden waren und an ihrer Stelle andere lagen. Wie konnte das sein? Barrick war sich sicher, dass während seines Bads niemand den Raum betreten oder verlassen hatte. Er hielt die neuen Kleider hoch, um sie zu inspizieren: Kniehosen und ein langes Hemd aus einem hellen, seidigen Stoff und Schlüpfschuhe aus weichem Leder, alles schlicht, aber wunderschön.
Wenn ein Fremder hier unentgeltlich solch erlesene Kleider bekam, dachte er, als er das Badegemach verließ, war die zerschlissene Gewandung des Königs erst recht unerklärlich.
Ynnir saß immer noch auf dem Stuhl, das Kinn auf der Brust, als schliefe er. Es war zweifellos eine Gaukelei des seltsamen Lichts, aber Barrick meinte, einen lavendelfarbenen Schein über dem Kopf des Königs flackern zu sehen, so schwach wie Sumpflicht.
Als Barrick auf ihn zutrat, regte sich der König, und das Leuchten verschwand, als wäre es nie dagewesen.
Komm jetzt mit mir,
befahl ihm der König und wandte ihm das blinde Gesicht zu.
Es ist Zeit, den Fuß auf den sich verengenden Weg zu setzen, wie mein Volk sagt.
Ynnir erhob sich von seinem Stuhl. Er war größer, als Barrick gedacht hatte, größer als die meisten Menschen, doch seine offenkundige natürliche Anmut stand in Widerstreit mit etwas, das wohl Alter oder Müdigkeit sein musste, denn er wankte kurz und musste sich an der Lehne seines Stuhls festhalten.
Irgendwoher wusste der blinde Ynnir, was Barrick sah und dachte.
Ja, ich bin müde. Ich dachte, ich hätte dich im Dazwischen verloren, und ich habe viel Kraft darauf verausgabt, dir hierherfinden
zu
helfen — Kraft, die ich eigentlich nicht erübrigen konnte. Aber das ist jetzt alles nicht wichtig. Wir haben schon lange genug gewartet. Jetzt müssen wir in die Kammer der Totenwache gehen.
Als er mit dem hochgewachsenen König durch die riesige Burg ging, sah er endlich auch ein paar andere Bewohner. Im traumartigen Dunkel der Hallen ließ sich nur schwer etwas Genaues erkennen — die Gestalten bewegten sich zu schnell oder waren nur ganz kurz sichtbar, ehe sie wieder verschwanden, und was er von ihnen sah, war vielfach genauso verwirrend, als wären da nur Schatten —, aber immerhin war jetzt klar, dass die Festung bewohnt war.
»Wie viele Leute leben hier, Herr?«, fragte er.
Ynnir tat noch ein paar langsame Schritte, ehe er antwortete. Er hob die Hand und führte Daumen und Zeigefinger nah zusammen, als zeigte er etwas sehr Kleines an.
Die meisten sind mit Yasammez gegangen, aber wir waren ohnehin schon viel weniger, als früher hier lebten. Ein paar sind geblieben, um mir
zu
dienen und sich um Qul-na-Qar selbst
zu
kümmern, und einige, etwa die Hüter der Tiefen Bibliothek, würden hier niemals weggehen — könnten es gar nicht. Das gilt auch noch für andere — du hast ja Harsars Söhne gesehen ...
»Söhne?« Im ersten Moment wusste Barrick nicht, wen der blinde König meinte. Dann fielen ihm die grotesken kleinen Monster ein, die um die Beine des Dieners herumgetollt waren. »Diese Kreaturen?«
Die Erste Gabe bringt nicht immer hilfreiche Verwandlungen hervor,
sagte der König, was nichts erklärte.
Doch alle Kinder der Gabe werden genährt und umhegt.
Er machte eine Geste, die so viel Resignation ausdrückte wie ein Seufzen.
Alles in allem, würde ich sagen, sind von meinen Leuten keine zweitausend mehr hier in diesen vielen, vielen Räumen . . .
Barrick wurde durch den Blick aus den hohen Fenstern des Flurs abgelenkt — das erste Mal, dass er klar sehen konnte, was draußen war. Qul-na-Qar erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein Wald von Türmen in den vielfältigsten Nuancen von glänzend schwarzem Stein, der ganz in der Ferne im Nebel verschwand. Die Türme selbst waren von hunderterlei Gestalt und Größe, schienen aber alle nach demselben Grundkonzept gebaut, simple
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