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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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durch sie hindurchgezogen war wie ein Sturm. »Das habe ich getan, und wie gesagt, ich schäme mich dafür. Aber vergessen wir nicht, dass er der Mann ist, der den Thron meiner Familie an sich gerissen hat. Stellt Euch doch einmal vor, wie Ihr empfinden würdet, wenn einer Eurer getreuen Edelleute« — Briony blickte lächelnd in die Tafelrunde — »sich als Verräter erwiese? Unvorstellbar, ich weiß, aber auch wir haben den Tollys vertraut.«
    Jetzt schien sie erstmals Enanders Aufmerksamkeit zu haben. »Ihr habt also nichts geahnt?«, fragte der König. »Lebte dieser Herzog Hendon denn nicht an Eurem Hof?«
    »Der Herzog war sein Bruder Gailon, Majestät«, berichtigte Briony behutsam. »Und ich muss zugeben, Gailon war, wie sich im Nachhinein erwies, weit aufrechter, als ich es ihm zugetraut hätte. Hendon hat, wie ich jetzt weiß, auch ihn getötet.«
    Jetzt lachte niemand mehr. »Schrecklich«, sagte eine der Frauen, eine alte Herzogin mit einer Perücke wie ein Vogelnest. »Armes Ding. Ihr müsst ja solche Angst gehabt haben?«
    Briony lächelte wieder, so scheu und bescheiden, wie sie irgend konnte. Anankas Gesicht am Ende der Tafel war eine Maske höflichen Mitgefühls, aber Briony war sich sicher, dass die Baronin ganz und gar nicht zufrieden damit war, wie das Gespräch ihrer Kontrolle entglitt. »Angst — ja, gewiss. Schreckliche Angst. Aber ich tat nur, was jede Prinzessin täte, wenn der väterliche Thron in Gefahr wäre. Ich floh, um mich an Freunde zu wenden. Verlässliche Freunde wie König Enander. Und noch einmal danke ich ihm ... und Lady Ananka ... für alles, was sie für mich getan haben.« Sie erhob ihren Becher und verneigte sich in Enanders Richtung. »Mögen Euch die Drei Brüder Eure große Güte mit Gesundheit und einem langen Leben vergelten, Majestät.«
    »Auf Seine Majestät«, nahmen alle übrigen den Trinkspruch auf. Enander schien überrascht, aber nicht unzufrieden. Ananka verbarg ihren Ärger gekonnt.
    Briony verbuchte es als Sieg an beiden Fronten.

    Nachdem Briony ihre Dienerinnen weggeschickt hatte, nahm sie den Brief heraus und studierte ihn zum fünften oder sechsten Mal, seit sie ihn am Vorabend erhalten hatte.
    Kommt in den Wetterfahnenhof, am Steintag, eine Stunde nach Sonnenuntergang.
    Er hatte, als sie zurückgekommen war, auf ihrem Schreibtisch gelegen, zusammengehalten von einem schlichten Stück Schnur statt von einem Wachssiegel. Die Handschrift sagte ihr nichts, aber sie konnte sich denken, wer ihn da hingelegt hatte. Sicherheitshalber ging sie jedoch an ihre Kleidertruhe und entnahm ihr die Jungenkleider, die sie bei Makswells Mimen getragen hatte. Sie hatte sie waschen lassen und weggepackt — man wusste ja nie, wann man sie wieder brauchen würde. Nach den Geschehnissen des letzten Jahres fühlte sich selbst der Weithallpalast, vermutlich der größte Palast von ganz Eion, wie ein windiger, unsicherer Unterschlupf an.
    Unter den groben Kleidungsstücken lag der Beutel mit ihren Yisti-Dolchen. Sie raffte ihre langen Röcke, bückte sich, was in dem Fischbeinmieder nicht ohne erhebliches Japsen abging, und wollte sich gerade den kleineren Dolch ums Bein binden, als ihr die Albernheit ihres Tuns bewusst wurde.
    Soll ich den Feind vielleicht bitten zu warten, während ich mich am Boden wälze und unter all meinen Unterröcken nach meinem Dolch grabble? Was hatte Shaso gesagt?
Findet eine Möglichkeit, sie so unter Euren Kleidern zu tragen, dass Ihr sie jederzeit ungehindert ziehen könnt.
Was würde er denken, wenn er sie darum ringen sähe, an ihr Bein zu kommen?
    Sie ließ es bleiben und richtete sich wieder auf. Sie zog ihren Mantel an und steckte gerade den kleineren der beiden Dolche in ihren Ärmel, als es an ihrer Tür klopfte. Briony zögerte: Ihre Dienerinnen hatte sie weggeschickt, Feival sammelte Klatschgeschichten in den Bedienstetenquartieren — sie war allein. »Wer da?«, rief sie.
    »Ich bin's nur, Prinzessin.«
    Sie machte auf, trat aber nicht beiseite, um ihre Freundin einzulassen. »Ach, Ivvie. Ich glaube, ich komme heute nicht zum Essen.«
    Ivgenia musterte Brionys Kleidung. »Wollt Ihr ausgehen, Schneebär?« Diese Anrede war ein kleiner Scherz — ihre Freundin tat gern so, als käme Briony aus dem eisigen hohen Norden.
    »Nein, nein, mir ist nur kalt.« Es war schwer, ein Mädchen anzulügen, das sie als Freundin betrachtete, aber sie brachte es einfach nicht über sich, irgendjemandem hier am Hof zu trauen, nicht mal der netten Ivgenia

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