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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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wohnen. Lucys Antwort lautet normalerweise, dass sich New York auch des Wassers wegen nicht lohnt.
    »Toller Blick. Nicht schlecht für die billigere Seite des Hauses«, stellt Lucy fest.
    »Du bist unmöglich.«
    »Ich weiß«, entgegnet Lucy.
    »Wie erträgt dich der arme Rudy bloß ?«
    »Keine Ahnung, wahrscheinlich liebt er seinen Job.«
    Lucy lümmelt auf einem Sofa aus Straußenieder. Als sie die nackten Beine überkreuzt, sprechen die Muskeln ihre eigene Sprache und reagieren auf Bewegungen und Nervenreize. Allerdings lebt Lucy einfach in den Tag hinein, ohne sich groß um ihr Äußeres zu kümmern. Das Fitnesstraining ist für sie eher eine Sucht, die ihr hilft, die Dämonen zu vertreiben.

76
    Jean-Baptiste streckt sich auf der dünnen Wolldecke aus, die er jede Nacht durchschwitzt.
    Er lehnt sich an die harte, kalte Wand. Inzwischen ist er zu dem Schluss gekommen, dass Rocco nicht tot ist. Jean-Baptiste wird auf keine Lügen mehr hereinfallen, auch wenn er nicht sicher ist, welchen Zweck diese besondere Lüge verfolgt. Ach, natürlich: Angst. Bestimmt steckt sein Vater dahinter. Er will Jean-Baptiste warnen, dass Verrat stets mit Leiden und Tod bestraft wird, selbst wenn es sich bei dem Abtrünnigen um den Sohn des mächtigen Monsieur Chandonne handelt.
    Eine Warnung. Dass Jean-Baptiste so kurz vor seinem Tod besser nicht reden sollte.
    Ha!
    Jeden Tag, in jeder Stunde, versucht der Feind, Jean-Baptiste leiden zu lassen und ihn zu töten.
    Sag nichts.
    Ich tue, was ich will. Ha! Ich, Jean-Baptiste, bin es, der über den Tod herrscht.
    Er könnte sich jederzeit selbst umbringen. Es dauert nur wenige Minuten, ein Bettlaken zusammenzudrehen und sich ein Ende um den Hals und das andere um ein Bein des Eisenbettes zu binden. Die meisten Menschen haben falsche Vorstellungen vom Aufhängen. Man braucht dazu keine große Höhe, nur die richtige Körperhaltung. Wenn man sich im Schneidersitz auf den Boden setzt und sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorne lehnt, übt man Druck auf die Blutgefäße aus. Binnen Sekunden treten Bewusstlosigkeit und schließlich der Tod ein. Die Angst würde ihn nicht davon abhalten, und falls er sein biologisches Leben beenden sollte, würde er es zuerst transzendieren, damit seine Seele ab diesem Punkt sein gesamtes Handeln bestimmt.
    Aber Jean-Baptiste hat nicht vor, auf diese Weise Schluss mit seinem biologischen Leben zu machen. Es gibt zu vieles, worauf er sich freut. Und deshalb lässt er beglückt seine kleine Zelle im Todestrakt hinter sich und versetzt seine Seele in eine Zukunft hinein, in der er hinter Plexiglas sitzt und die Ärztin Scarpetta anstarrt. Gierig nimmt er ihre gesamte Existenz in sich auf und lässt noch einmal Revue passieren, wie er sich durch einen genialen Trick Zutritt zu ihrem reizenden chateau verschafft und den Hammer erhoben hat, um ihr den Schädel zu zerschmettern. Doch sie hat sich die Ekstase versagt. Sie hat Jean-Baptiste zurückgewiesen, indem sie ihm ihr Blut verweigerte. Nun kommt sie demütig und voller Liebe angekrochen. Denn inzwischen ist ihr klar geworden, was sie getan, wie albern sie sich verhalten und auf welche Freuden sie verzichtet hat, als sie ihn noch weiter verstümmelte und ihm die Augen mit Formalin verätzte - der Chemikalie des Todes. Scarpetta hat Jean-Baptiste das Formalin ins Gesicht geschüttet. Die widerwärtige Flüssigkeit hat ihn für einen Moment demagnetisiert, und kurz hat ihn der Schmerz gezwungen, die Hölle zu erdulden, die es bedeutet, ausschließlich in seinem Körper zu leben.
    Madame Scarpetta wird die Ewigkeit damit verbringen, seine höhere Entwicklungsstufe anzubeten. Seine Erhabenheit wird ihre Überlegenheit auf die anderen Menschen im gesamten Universum verstrahlen, wie Poe es unter dem Pseudonym »ein Gentleman aus Philadelphia« schrieb. Natürlich ist Poe dieser anonyme Autor. Der unsichtbare Bote, der eigentlich die Transzendenz von Poe ist, ist Jean-Baptiste im Delirium erschienen, als er im Krankenhaus von Richmond ans Bett gefesselt war. In Richmond ist auch Poe aufgewachsen. Seine Seele ist immer noch dort.
    »Lies meine inspirierten Worte«, hat Poe Jean-Baptiste angewiesen. »Dann wirst du unabhängig sein von einem Intellekt, den du nicht länger brauchst, mein Freund. Du wirst von der Kraft angetrieben werden, und weder Schmerz noch inwändige Gefühle werden dich länger von deinem Weg abbringen.«
    Seiten 56 und 57. Das Ende von Jean-Baptistes »Gebremster Marsch der vernünftigen

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