Die Dämonen ruhen nicht
Scheißradio wie ich. Rate mal, was gerade gemeldet wurde! Dein Anwalt hat sich in Polen die Rübe weggepustet.«
Jean-Baptiste bewegt den Stift vorsichtig und mit der geschickten Hand eines Chirurgen. Er fährt die Wörter Im Todestrakt und in der ersten Reihe des Lebens nach und streicht mit den Fingerspitzen über die Einkerbungen im weißen Papier, als er einen Brief an Scarpetta schreibt, den sein Anwalt an sie weiterleiten wird - der Anwalt, der, wie Jean-Baptiste eben gehört hat, angeblich tot ist. Roccos Tod lässt Jean-Baptiste zwar gefühlsmäßig kalt, doch er ist neugierig, ob es damit eine besondere Bewandtnis hat oder ob Rocco Opfer eines zufälligen selbstmörderischen Wahns wurde.
Die Nachricht von dem Selbstmord löst die übliche Flut an Beschimpfungen, gemeinen Bemerkungen und Fragen aus.
Informationen.
Im Todestrakt sind Informationen etwas Kostbares. Jede Neuigkeit wird verschlungen. Die Männer sind ausgehungert nach Gerüchten, Tratsch und Informationen, Informationen, Informationen. Also ist es ein großer Tag für sie. Keiner der Häftlinge ist Rocco Caggiano je begegnet, doch wenn Jean- Baptistes Name fällt, wird auch stets der von Rocco erwähnt und umgekehrt. Also liegt es für Jean-Baptiste auf der Hand, dass die Presse sich für Roccos Tod interessieren wird, und zwar nur deshalb, weil er den berüchtigten Jean-Baptiste verteidigt hat - alias Werwolf, alias Haarmonster, Ringelschwanz und Wolfmann und ... Wie lautet noch mal der neue Name, den Biest sich heute für ihn ausgedacht hat?Wolf, der Schamhaarkiller.
Das hat er jedenfalls auf einen zusammengefalteten Zettel geschrieben, der - dekoriert mit ein paar Schamhaaren - unter Jean-Baptistes Zellentür durchgeschoben wurde. Biests Schamhaare. Jean-Baptiste hat den Zettel aufgegessen, die Wörter geschmeckt und die Schamhaare aus dem vergitterten Fenster gepustet. Sie wehten auf den Boden vor seiner Zelle.
»Wenn ich der Anwalt von Wolfmann wäre, würde ich mir auch die Rübe wegpusten!«, brüllt Biest.
Gelächter und lautes Gepolter, als die Häftlinge gegen ihre Stahltüren treten.
»Ruhe! Was, verdammt noch mal, ist hier los?«
Das Tohuwabohu dauert nicht lange. Die Vollzugsbeamten stellen sofort wieder Ordnung im Zellenblock her. Ein Paar brauner Augen erscheint im vergitterten Fenster von Jean-Baptistes Tür.
Jean-Baptiste spürt, wie niedrig die Energie des Blickes ist. Er erwidert ihn nicht.
73
»Müssen Sie telefonieren, Chandonne?«, fragt die Stimme, die zu den Augen gehört. »Ihr Anwalt ist tot. Selbstmord. Man hat seine Leiche in einem Hotelzimmer in irgendeiner polnischen Stadt gefunden, die ich nicht aussprechen kann. Sieht aus, als wäre er schon eine Weile tot gewesen. Er hat sich umgebracht, weil er polizeilich gesucht wurde. Es passt ja, dass Sie von einem Verbrecher vertreten worden sind. Mehr weiß ich auch nicht.«
Jean-Baptiste sitzt auf seiner Pritsche und fährt die Wörter auf weißem Papier nach. »Wer sind Sie?«
»Officer Duck.«
»Monsieur Canard? Coin-Coin. Das ist Französisch für Quak-Quak, Monsieur Ente.«
»Wollen Sie jetzt telefonieren oder nicht?«
»Nein, merci .«
Officer Duck weiß nicht, wie er die feinen Nadelstiche beschreiben soll, die ihn jedes Mal wieder auf die Palme bringen, wenn Jean-Baptiste den Mund aufmacht. Er fühlt sich stets gedemütigt und machtlos, als ob der entstellte Mörder dem Todestrakt und denen, die über sein Leben und Sterben bestimmen, überlegen wäre und ihnen völlig gleichgültig gegenüberstünde. In Gegenwart des Wolfmanns fühlt sich Officer Duck wie ein Schatten in Uniform. Er freut sich auf Jean- Baptistes Hinrichtung und wünscht ihm einen schmerzhaften Tod.
»Ganz richtig. Keine Gnade. Nur noch zehn Tage, dann kriegen wir Sie am Arsch«, flucht Officer Duck. »Tut mir Leid, dass Ihr Anwalt sich das Hirn weggepustet hat und in einem Hotelzimmer vergammelt ist. Sie haben wirklich mein Mitgefühl.«
»Lügen«, erwidert Jean-Baptiste, steht von seiner Pritsche auf, geht zur Tür und schlingt die Finger mit den hellen, flaumigen Haarwirbeln um die Eisengitter des winzigen Fensters.
Sein Gesicht, das an eine Halloween-Maske erinnert, füllt das kleine Viereck und erschreckt Officer Duck, der fast in Panik gerät, als er den gut drei Zentimeter langen, schmutzigen Daumennagel so dicht vor sich sieht - den einzigen Nagel, den der Wolfmann sich aus irgendeinem Grund nie schneidet.
»Lügen«, wiederholt Jean-Baptiste.
Man kann nie sagen,
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