Die Dämonen ruhen nicht
Babyflaum von Gesicht, Armen, Hals, Rücken, Beinen, Füßen und dem restlichen Körper schabte.
Manchmal, wenn sie Jean-Baptiste versehentlich in einen Finger oder, was zuweilen geschah, sogar in mehrere schnitt, schrie sie ihn an, als wäre ihre Ungeschicklichkeit seine Schuld. Insbesondere die Fingerknöchel waren schwierig zu rasieren. Madame Chandonnes Zittern und ihre alkoholisierten Tobsuchtsanfälle machten ihren Versuchen, den hässlichen Sohn zu enthaaren, schließlich ein Ende, denn eines Tages schnitt sie Jean-Baptiste beinahe die linke Brustwarze ab, so- dass sein Vater den Hausarzt rufen musste. Monsieur Raynaud forderte Jean-Baptiste auf, un grand garcon zu sein, da der kleine junge jedes Mal aufschrie, wenn die Nadel sich ins blutige Fleisch bohrte, um die bleiche Brustwarze, die nur noch an einem Hautfetzen hing, wieder zu befestigen.
Seine betrunkene Mutter rang weinend die Hände und beschimpfte le petit monstre vilain, das einfach nicht still sitzen wollte. Ein Dienstbote wischte das Blut des kleinen Ungeheuers auf, während Jean-Baptistes Vater französische Zigaretten rauchte und sich über die Belastung beklagte, einen Sohn zu haben, der mit einem costume de singe - einem Affenanzug - geboren sei.
In Raynauds Gegenwart konnte Monsieur Chandonne frei sprechen, Scherze machen und sein Herz ausschütten. Er war der einzige Arzt, der an Jean-Baptiste herangelassen wurde, als das kleine Ungeheuer, une espece d’imbecile und in einem Affenanzug geboren, im hotel particulier der Familie lebte, wo es sein Zimmer im Keller hatte. Raynaud sorgte dafür, dass es über Jean-Baptiste weder eine Krankenakte noch eine Geburtsurkunde gab, und behandelte ihn nur in Notfällen, zu denen allerdings nicht die üblichen Krankheiten und Verletzungen wie starke Ohrenschmerzen, hohes Fieber, Verbrennungen, verstauchte Knöchel und Handgelenke, ein eingetretener Nagel oder andere medizinische Leiden gehörten, deretwegen man bei den meisten Kindern den Hausarzt holt. Inzwischen ist Monsieur Raynaud ein alter Mann. Er wagt es nicht, über Jean-Baptiste zu sprechen, da mag die Presse ihm ein noch so hohes Honorar für vertrauliche Informationen über seinen berüchtigten ehemaligen Patienten anbieten.
81
Scham und Angst überkommen Lucy.
Sie hat Berger in allen Einzelheiten geschildert, was im Zimmer 511 des Radisson Hotels vorgefallen ist - allerdings nicht, wer Rocco tatsächlich erschossen hat.
»Wer hat abgedrückt, Lucy?«, beharrt Berger.
»Das ist egal.«
»Da du die Frage nicht beantwortest, gehe ich davon aus, dass du es warst!«
Lucy schweigt.
Reglos steht Berger da und blickt hinaus auf die funkelnden Lichter der Stadt; sie enden am dunklen Hudson und beginnen dahinter wieder als die hell erleuchteten Siedlungsflächen von New Jersey. Der Abstand zwischen ihr und Lucy könnte nicht größer sein, als befände Berger sich auf der anderen Seite der gewaltigen Glasscheibe.
Lucy tritt lautlos näher. Sie möchte Berger an der Schulter berühren, befürchtet aber, dass sie ihr für immer entgleiten könnte, wenn sie es wagt, so als schwebe sie fünfundvierzig Stockwerke über der Straße in der leeren Luft.
»Marino darf es nicht erfahren. Niemals«, sagt Lucy. »Meine Tante darf es nicht erfahren. Niemals.«
»Eigentlich sollte ich dich hassen«, erwidert Berger.
Sie riecht zart nach Parfüm, ein kräftiger Duft, sparsam aufgetragen, und Lucy schießt durch den Kopf, dass Berger für ihren Mann nie Parfüm aufgelegt hat. Er ist nicht da.
»Nenn es, wie du willst«, fährt Berger fort. »Du und Rudy habt einen Mord begangen.«
»Nichts als Wörter«, entgegnet Lucy. »Kriegsopfer. Selbstverteidigung. Gerechtfertigte Tötung. Heimatschutz. Wir haben Wörter und juristische Begründungen für Taten, die in Wirklichkeit unentschuldbar sind, Jaime. Ich schwöre dir, dass wir keine Freude dabei hatten; die Rache schmeckt nicht süß. Er war ein jämmerlicher Feigling, der stammelte und in seinem ganzen grausamen und wertlosen Leben nur eine einzige Sache bereute: nämlich dass er nun endlich die Quittung bekam. Wie konnte Marino einen solchen Sohn haben? Welche Marker des menschlichen Genoms haben sich verbunden und so etwas wie Rocco ausgespuckt?«
»Wer weiß sonst noch davon?«
»Rudy. Und jetzt du ...«
»Und außerdem? Hattest du Anweisungen?«, hakt Berger nach.
Lucy denkt an den vorgetäuschten Mord an Benton und an die vielen Ereignisse und Gespräche, von denen sie Berger niemals erzählen
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