Die Dämonen ruhen nicht
Geheimdienst Ihrer Majestät oder den Osterhasen wähnte.«
»Hör auf damit!«, ruft Lucy. »So ist es nicht.«
Bergers Hände gleiten hinauf zu Lucys Schultern. »Könntest du jetzt zum ersten Mal in deinem Leben richtig zuhören?« Lucy blinzelt Tränen weg.
»Wer?«, beharrt Berger. »Wer hat dich auf diese gottverfluchte, idiotische Mission geschickt? Ist es jemand, den ich kenne?«
»Bitte, hör auf! Ich kann und werde es dir nicht sagen. Es gibt so viel, Jaime, was du besser nicht weißt. Bitte, vertrau mir.«
»Mein Gott!« Bergers Griff lockert sich, aber sie lässt nicht los. »Lucy, schau dich an. Du zitterst ja wie Espenlaub.«
»Lass das.« Ärgerlich weicht Lucy zurück. »Ich bin kein Kind mehr. Wenn du mich anfasst ...« Sie macht noch einen Schritt rückwärts. »... wenn du mich anfasst, bedeutet das etwas anderes. Das tut es immer noch. Also lass es.«
»Ich weiß, was es bedeutet«, entgegnet Berger. »Entschuldige.«
82
Um zweiundzwanzig Uhr steigt Scarpetta vor dem Haus, in dem Jaime Berger wohnt, aus dem Taxi.
Weil sie ihre Nichte noch immer nicht erreicht hat, steht Scarpetta Ängste aus, die sich bei jedem Anruf steigern. Lucy meldet sich weder in ihrer Wohnung noch am Mobiltelefon. Einer ihrer Mitarbeiter im Büro hat gesagt, er wisse nicht, wo sie sei. Je länger Scarpetta an ihre waghalsige, temperamentvolle Nichte denkt, desto mehr rechnet sie mit dem Schlimmsten. Ihre zwiespältige Haltung zu Lucys neuem Beruf hat sich nicht gelegt. Ihre Nichte führt ein gefährliches Leben ohne feste Regeln, dafür aber voller Geheimnisse, das ihrer Persönlichkeit zwar entsprechen mag, für Scarpetta jedoch ein Ärgernis ist und ihr Angst macht. Häufig ist Lucy einfach nicht zu erreichen, und Scarpetta weiß nur selten, was sie gerade treibt.
In dem luxuriösen Hochhaus, in dem Jaime Berger wohnt, wird Scarpetta von einem Portier begrüßt.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
»Jaime Berger«, erwidert Scarpetta. »Das Penthouse.«
83
Am liebsten würde Lucy aus dem Gebäude flüchten, als ihr klar wird, dass ihre Tante gerade mit dem Aufzug auf dem Weg nach oben ist.
»Beruhige dich«, sagt Berger.
»Sie weiß nicht, dass ich hier bin«, antwortet Lucy verstört. »Und sie soll es auch nicht wissen. Ich kann sie jetzt nicht sehen.«
»Irgendwann wirst du sie treffen müssen. Warum also nicht jetzt?«
»Aber sie weiß nicht, dass ich hier bin«, wiederholt Lucy. »Was soll ich ihr denn sagen?«
Berger wirft ihr einen merkwürdigen Blick zu, während sie an der Tür auf das Geräusch des ankommenden Aufzugs warten.
»Wäre die Wahrheit denn so schlimm?«, entgegnet Berger dann wütend. »Das ist doch eine Möglichkeit. Es kann sehr befreiend sein, wenn man hin und wieder mal die Wahrheit sagt.«
»Ich lüge nicht«, gibt Lucy zurück. »Das gehört zu den Dingen, die ich mir wirklich nicht vorzuwerfen habe - solange es nicht beruflich ist und mit verdeckten Ermittlungen zu tun hat.«
»Das Problem entsteht, wenn die Grenzen verschwimmen«, merkt Berger an, während der Aufzug eintrifft. »Geh und setz dich ins Wohnzimmer.« Als ob Lucy ein Kind wäre. »Lass mich zuerst mit ihr reden.«
Bergers Vorhalle ist mit Marmor ausgekleidet. Gegenüber den Aufzugtüren aus blitzblankem Messing steht ein Tisch, auf dem eine Vase mit frischen Blumen prangt. Berger hat Scarpetta seit einigen Jahren nicht gesehen und ist bestürzt, als diese aus dem Aufzug tritt. Kay Scarpetta wirkt erschöpft. Ihr Hosenanzug ist ziemlich zerknittert, und ihre Augen blicken ängstlich.
»Geht denn auf dieser Welt überhaupt niemand mehr ans Telefon?«, lautet ihre Begrüßung. »Ich habe es bei Marino, bei Lucy und bei dir versucht. Bei dir war besetzt, und zwar schon seit einer Stunde. Also bin ich davon ausgegangen, dass zumindest jemand zu Hause ist.«
»Ich hatte das Telefon ausgehängt ... um nicht gestört zu werden.«
Damit hatte Scarpetta nicht gerechnet. »Tut mir Leid, dass ich einfach so bei dir hereinplatze. Aber ich bin völlig verzweifelt, Jaime.«
»Das merkt man. Bevor du reinkommst, muss ich dir noch sagen, dass Lucy hier ist.« Das sagt sie ganz sachlich. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Allerdings nehme ich eher an, dass du erleichtert bist.«
»Nicht so ganz. Ihr Büro - also Lucy - hat mich abgewimmelt.«
»Kay, bitte komm erst mal rein«, sagt Berger.
Sie gehen ins Wohnzimmer.
»Hallo.« Lucy umarmt ihre Tante.
Scarpettas Reaktion ist steif. »Warum behandelst du mich
Weitere Kostenlose Bücher