Die Dämonen ruhen nicht
Angesichts der Gewebereaktionen auf die Verletzungen muss sie noch eine Weile gelebt haben. Scarpetta berührt die Tote am Arm. Sie ist noch warm, wie lebendig. Die Totenstarre hat noch nicht eingesetzt - ebenso wenig wie das Absacken des Blutes durch die Schwerkraft, das eintritt, sobald der Kreislauf stillsteht.
Dr. Lanier entfernt das Thermometer, liest es ab und verkündet: »Körpertemperatur sechsunddreißig Grad.«
»Dann ist sie ja noch gar nicht lange tot«, erwidert Scarpetta. »Doch der Zustand des Blutes im Wohnzimmer, im Flur und sogar hier drin weist darauf hin, dass der Überfall schon vor mehreren Stunden stattfand.«
»Wahrscheinlich war die Kopfverletzung Todesursache, und es hat eine Weile gedauert, bis sie starb«, sagt Dr. Lanier und betastet vorsichtig ihren Hinterkopf. »Frakturen. Wenn man mit dem Hinterkopf gegen eine Ziegelmauer geknallt wird, führt das zu ernsthaften Verletzungen.«
Obwohl Scarpetta nicht bereit ist, über die Todesursache zu spekulieren, stimmt sie zu, dass das Opfer ein schweres Schädeltrauma, verursacht durch stumpfe Gewalt, erlitten hat. Wenn die Stiche eine wichtige Arterie verletzt oder gar durchtrennt hätten, wäre der Tod binnen Minuten eingetreten. Das ist ziemlich unwahrscheinlich - eigentlich unmöglich -, da die Frau ja noch eine geraume Zeit gelebt hat.
Außerdem kann Scarpetta keine Blutspritzer entdecken, die auf eine Arterienverletzung hindeuten. Vielleicht war die Frau ja sogar noch am Leben, als ihr Freund sie um zwölf Uhr dreißig fand, ist aber bis zum Eintreffen des Rettungswagens gestorben.
Inzwischen ist es kurz nach dreizehn Uhr dreißig.
Das Opfer trägt einen hellblauen Satinpyjama. Die Hose ist unversehrt, das Oberteil aufgerissen. Bauch, Brüste, Brustkörper und Hals sind mit Stichwunden übersät, die sechzehn Millimeter messen. Beide Enden sind stumpf, das eine ist ein wenig breiter als das andere. Die oberflächlichen Verletzungen sind ein Indiz dafür, dass nicht mit einem gewöhnlichen Messer auf sie eingestochen wurde. Ungefähr in der Mitte der flachen Einstiche ist ein Stück Gewebe stehen geblieben, was heißt, dass die Waffe an der Spitze eine Art Lücke gehabt haben muss. Möglicherweise handelt es sich um ein Werkzeug mit Doppelklingen von unterschiedlicher Dicke und Länge.
»Das ist aber verdammt seltsam«, sagt Dr. Lanier. Den Kopf tief über die Leiche gebeugt, hält er ein Vergrößerungsglas über die Wunden. »So ein Messer habe ich noch nie gesehen. Sie vielleicht?« Er blickt Scarpetta an.
»Nein.«
Die Wunden wurden dem Opfer aus unterschiedlichen Winkeln zugefügt. Einige von ihnen sind V- oder Y-förmig, da die Klinge offenbar gedreht wurde, was bei Stichverletzungen häufig vorkommt. Einige Wunden klaffen, andere sind knopflochähnliche Schlitze, was davon abhängt, ob der Einstichwinkel mit den elastischen Fasern der Haut verläuft oder dagegen.
Scarpettas behandschuhte Finger spreizen vorsichtig die Ränder einer Wunde. Wieder wundert sie sich über das undurchtrennte Hautstück, das durch die ungefähre Mitte verläuft. Um sich besser vorstellen zu können, was für eine Waffe verwendet wurde, benutzt sie eine Lupe. Dann rafft sie vorsichtig das Pyjamaoberteil zusammen, vergleicht die Löcher im Satin mit den Wunden und versucht sich ein Bild davon zu machen, wie das Kleidungsstück lag, als die Frau erstochen wurde. An dem zerrissenen Pyjamaoberteil fehlen drei Knöpfe. Scarpetta entdeckt sie auf dem Boden. Zwei Knöpfe baumeln nur noch an Fäden.
Als sie das Pyjamaoberteil ordentlich über der Brust drapiert, so als hätte das Opfer aufrecht gestanden, stimmen die Löcher natürlich überhaupt nicht mit den Stichwunden überein. Außerdem gibt es mehr Löcher im Satin als Verletzungen. Scarpetta zählt achtunddreißig Löcher und zweiundzwanzig Einstichstellen. Eine Überreaktion, um es einmal milde auszudrücken, und zwar eine, die für Lustmorde typisch ist. Außerdem auch, wenn Täter und Opfer einander kannten.
»Haben Sie was gefunden?«, fragt Dr. Lanier.
Scarpetta legt immer noch Löcher aufeinander und ist auf etwas gestoßen. »Anscheinend ist ihr das Oberteil über den Brüsten zusammengeschoben worden, als der Täter auf sie einstach. Sehen Sie?« Sie schiebt das Oberteil hoch. Es ist so von Blut durchtränkt, dass von dem blauen Satin nicht mehr viel übrig ist. »Einige Stiche gehen durch drei Stoffschichten. Deshalb haben wir mehr Löcher als Wunden.«
»Hat er ihr das Oberteil
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