Die Dämonen ruhen nicht
die Kunst und das Leben geliebt. In zarten Rahmen stecken Fotos einer sonnengebräunten Frau mit schimmerndem schwarzem Haar, einem strahlenden Lächeln und einer schlanken Figur. Auf einigen anderen Fotos ist sie auf einem Boot oder auf einem Steg zu sehen, zusammen mit einer anderen, ebenfalls dunkelhaarigen Frau, die ihr so sehr ähnelt, dass sie ihre Schwester sein muss.
»Sind wir sicher, dass sie allein gelebt hat?«, fragt Scarpetta.
»Offenbar war sie allein, als sie überfallen wurde«, entgegnet Clark nach einem Blick in einen Notizblock.
»Aber wir wissen es nicht hundertprozentig.«
Er zuckt die Achseln. »Nein, Ma’am. Momentan wissen wir gar nichts hundertprozentig.«
»Ich stelle diese Frage nur, weil auf so vielen dieser Fotos zwei Frauen zu sehen sind, die offenbar eine enge Beziehung miteinander haben. Einige der Aufnahmen wurden in diesem Haus oder anscheinend auf der Veranda und vielleicht auch im Garten gemacht.« Sie weist auf die Wischspuren über der Sockelleiste und interpretiert sie. »Genau hier ist sie gestürzt; möglicherweise war es auch jemand anders, und diese Person hat so stark geblutet, dass ihr Haar blutig war ...«
»Tja, sie hat eine ziemlich schwere Kopfverletzung, und ihr Gesicht ist übel zugerichtet«, erklärt Clark.
Geradeaus geht es zum Wohnzimmer, das von einem antiken Tisch aus Walnussholz und sechs passenden Stühlen dominiert wird. Die Kredenz ist alt, und hinter den Glastüren ist Geschirr mit Goldrand zu sehen. Dahinter führt ein offener Türbogen in die Küche, und es macht nicht den Anschein, dass das Opfer oder der Täter in diese Richtung gelaufen ist. Doch rechts vom Wohnzimmer wurde die Jagd entlang eines mit blauem Teppich belegten Flurs fortgesetzt und endete in einem Zimmer, das auf den Vorgarten zeigt.
Überall ist Blut. Es ist dunkelrot angetrocknet, hat den Teppich aber an manchen Stellen so durchweicht, dass es noch feucht ist. Am Ende des Flurs bleibt Scarpetta stehen und untersucht die winzigen Blutstropfen an der vertäfelten Wand. Ein Tropfen ist rund, innen sehr hellrot und ziemlich dunkelrot am Rand. Ringsherum verläuft ein Kranz aus weiteren Tröpfchen, von denen einige fast zu klein für das menschliche Auge sind.
»Wissen wir, ob auf sie eingestochen wurde?« Scarpetta dreht sich um und richtet diese Frage an Clark, der noch am Anfang des Flurs steht und an einer Videokamera herumnestelt.
Dr. Lanier hat das Zimmer bereits betreten. Nun erscheint er in der Tür und sieht Scarpetta finster an. »Ja, sie hat Stichverletzungen«, entgegnet er mit harter Stimme. »Und zwar so zwischen dreißig und vierzig.«
»Hier an der Wand sind Blutstropfen, die auf Niesen oder Husten hinweisen«, teilt Scarpetta ihm mit. »Das erkennt man, weil die Tropfen mit dem dunklen Rand hier und hier« - sie zeigt darauf - »auf Bläschenbildung hindeuten. Das trifft man manchmal an, wenn Blut in die Luftröhre oder die Lunge des Opfers geraten ist. Vielleicht hatte sie auch nur Blut im Mund.«
Scarpetta nähert sich der linken Seite der Tür, wo nur wenig Blut zu sehen ist. Ihr Blick fällt auf Fingerschmierer, wo sich jemand am Türrahmen festgehalten hat, und weitere Tropfen auf dem Teppich, die durch die Tür auf den Parkettboden führen. Dr. Lanier, Eric und Nic Robillard versperren ihr die Sicht auf die Leiche. Scarpetta geht hinein und schließt die Tür hinter sich, ohne eine blutige Oberfläche oder den Türknauf zu berühren.
Nic kauert auf den Fersen, eine Fünfunddreißig-Millimeter-Kamera in der behandschuhten Hand und die Unterarme auf die Knie gestützt.
Falls sie sich freut, Scarpetta zu sehen, lässt sie sich das nicht anmerken. Schweiß rinnt ihr den Hals entlang und versickert in ihrem dunkelgrünen Polohemd mit der Aufschrift Polizei Zachary, das in einer khakifarbenen Cargohose steckt. Nic steht auf und rutscht beiseite, damit Scarpetta sich die Leiche ansehen kann.
»Ihre Stichwunden sind wirklich seltsam«, merkt Nic an. »Als ich kam, betrug die Raumtemperatur zwanzig Grad.«
Dr. Lanier steckt ein langes Laborthermometer unter den Arm des Opfers. Dann beugt er sich dicht über die Leiche, mustert sie gründlich und lässt sich dabei Zeit. Scarpetta glaubt, die Frau als eine der beiden zu erkennen, die sie auf den Fotos überall im Wohnzimmer gesehen hat.
Aber hundertprozentig lässt sich das nicht sagen. Ihr Haar ist mit Blut verkrustet, ihr Gesicht geschwollen und von Blutergüssen, Schnittwunden und Knochenbrüchen entstellt.
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