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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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wissen, ohne zu wissen, und ohne den Körper, der ihn seit seiner Geburt quält, überall hingehen. Jean-Baptiste hat nie etwas anderes kennen gelernt als Hass. Bevor er versucht hat, die Chefpathologin in Virginia zu ermorden, und schließlich von der Polizei geschnappt wurde, floss der heftige Hass durch seine Mitmenschen in ihn hinein und dann wieder in die anderen zurück, sodass sich der unendliche Kreislauf schloss. Seine Gewaltorgien waren unvermeidlich, und er macht weder seinen Körper dafür verantwortlich, noch empfindet er Reue.
    Nach zwei Jahren im Todestrakt lebt Jean-Baptiste in einem Dauerzustand des Magnetismus und leidet nicht mehr an Negativität gegenüber anderen Lebewesen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er nicht wieder töten würde. Wenn sich die Gelegenheit ergäbe, würde er wie früher Frauen zerstückeln, doch seine elektrische Spannung ist nicht von Hass und Lust aufgeladen. Er würde schöne Frauen vernichten, um einem höheren Ziel zu dienen und einen unbefleckten Kreislauf zu vollenden, der zwingend und göttlich ist. Seine köstliche Verzückung würde die Auserwählten durchströmen. Ihre Schmerzen und ihr Tod würden wunderschön sein. Ewig würden seine Auserwählten ihm danken, während ihr Denken sich vom Körper löst.
    »Wer ist da?«, fragt er in die stickige, muffige Luft hinein.
    Er lässt die Klopapierrolle zu seinem schmalen Bett hinüberkullern und sieht zu, wie sich eine weiche, weiße Straße entrollt, die ihn aus diesen Betonmauern hinausführen wird. Vielleicht geht es ja heute nach Beaune, wo er seinem Lieblingsweinkeller aus dem 12. Jahrhundert auf dem Weingut von Monsieur Cambrai einen Besuch abstatten und Burgunderweine aus Fässern seiner Wahl verkosten wird, ohne sich die Mühe zu machen, Luft in den Mund zu ziehen und den Wein in eine Steinschale zu spucken, wie es sich schickt, wenn man die Schätze des terroir probiert. Er darf keinen Tropfen vergeuden! Ha! Schauen wir mal, welcher gran vin de Bourgogne diesmal an der Reihe ist. Er legt den Zeigefinger an seine entstellten Lippen.
    Sein Vater, Monsieur Chandonne, besitzt ein Weingut in Beaune. Außerdem gehören ihm Kellereien und Exportfirmen. Jean-Baptiste kennt sich sehr gut mit Weinen aus, obwohl man sie ihm vorenthalten hat, als man ihn erst in den Keller verbannte und schließlich seines Elternhauses verwies. Seine Vertrautheit mit Beaune ist ein farbenfrohes Phantasiegespinst, gespeist aus den detailgetreuen Geschichten, die sein charmanter Bruder vom Wein erzählt hat, um Jean-Baptiste seine Benachteiligung und Nichtexistenz unter die Nase zu reiben. Ha! Jean-Baptiste braucht keine Zunge zum Schmecken. Er kennt den kühnen Clos de Vougeot und den weichen, komplexen und eleganten roten Clos de Mouches.
    1997 war ein sehr gutes Jahr für den roten Clos de Mouches, und der Weißwein des Jahrgangs 1980 schmeckt leicht nach Haselnuss und ist deshalb so besonders. Und, ach, die Harmonie des Echezaux! Aber es ist der König der Burgunder, den er am besten kennt, der muskulöse und groß ausgebaute Chambertin. Von den 280 Flaschen, die im Jahr 1999 abgefüllt wurden, hat Monsieur Chandonne 150 für seinen cave erworben. Von diesen 150 Flaschen hat Jean-Baptiste kein Schlückchen abbekommen. Doch nach einem seiner Morde in Paris hat er sein Opfer beraubt und mit einem 1998er Chambertin gefeiert, der nach Erde und Mineralien schmeckte und ihn an ihr Blut erinnerte. Was den Bordeaux angeht, bevorzugt er einen Premier Grand Cru Classe, vielleicht den 1984er Chateau Haut- Brion.
    »Wer ist da?«, ruft er.
    »Halt’s Maul und hör auf, mit dem Klopapier rumzufummeln. Heb es auf!«
    Jean-Baptiste muss nicht hinschauen, um die Augen zu sehen, die wütend durch die Gitterstäbe in der Tür starren.
    »Roll es hübsch ordentlich zusammen, und spiel nicht ständig an deinem Pimmel rum!«
    Als die Augen verschwinden, bleibt nur kalte Luft zurück. Jean-Baptiste muss nach Beaune aufbrechen, wo es keine Augen gibt. Er muss seine nächste Auserwählte finden, ihr das fehlerhafte Augenlicht entreißen und ihr Vergessen ins Gehirn prügeln, damit sie sich nicht mehr an ihren Ekel bei seinem Anblick erinnert. Dann gehört ihm ihr Weingut. Ihre Hügel und ihre grün strotzenden Weinstöcke sind seine. Er kann ihren Weinkeller erkunden und sich dunkle, feuchte Wände entlangtasten, die immer kühler werden, je mehr Zeit er sich lässt. Ihr Blut ist guter Rotwein jedes Jahrgangs, nach dem es ihn gelüstet. Leuchtend rot

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