Die Dämonen ruhen nicht
stinksauer mich das als Kind gemacht hat«, erinnert sich Nosmo King. »Man kauft sich einen nagelneuen Drachen, und fünf Minuten später hängt er an der Hochspannungsleitung oder in einem Scheißbaum. Das ist eben das Leben. Alles läuft prima, und schon im nächsten Moment guckst du in die Röhre.«
Benton sieht und spürt dunkle, sorgenvolle Schatten aus der Vergangenheit, ganz gleich, wo er ist oder was er tut. Er lebt in der Einsamkeit wie in einer stählernen Kiste, was ihn so bedrückt und zornig macht, dass ihn in vielen Augenblicken, Stunden, Tagen und Wochen gar nichts mehr interessiert; dann hat er keinen Appetit und schläft zu viel. Er braucht Sonne und hat Angst vor dem Winter. Also ist er dankbar, dass dieser frühe Nachmittag so blitzblank poliert ist. Wenn seine Augen nicht - wie meistens - von einer Sonnenbrille geschützt wären, könnte er gar nicht über den Charles oder in den leuchtend blauen Himmel hinaufschauen. Er wendet sich von den jungen Sportlern ab, die den Fluss beherrschen, voller Trauer, weil schon ein halbes Jahrhundert in seinem Leben vergangen ist und weil er nicht länger von Mut und Eroberungswillen bestimmt wird, sondern von Nichtvorhandensein, Machtlosigkeit und einem unwiederbringlichen Verlust.
Ich bin tot, sagt er sich jeden Morgen beim Rasieren. Ganz gleich, was passiert, ist bin tot.
Mein Name ist Tom. Tom Haviland. Tom Speck Haviland, geboren in Greenwich, Connecticut, am 20. Februar 1955, beide Eltern aus Salem, Massachusetts. Psychologe im Ruhestand, genug von den Problemen anderer Leute, Sozialversicherungsnummer: blablabla, ledig, homosexuell, HlV-positiv, schaue gern zu, wie die knackigen Jungs im Fitnessstudio sich im Spiegel betrachten, aber mache keine Annäherungsversuche, knüpfe keine Gespräche an, besuche keine Schwulenkneipen und habe keine sexuellen Beziehungen, Nie, nie, niemals.
Das ist alles gelogen.
Benton Wesley lebt seit sechs Jahren mit Unwahrheiten und im Exil.
Er geht zu einem Picknicktisch, setzt sich darauf, stützt die Arme auf die Knie und verschränkt die schlanken Finger fest ineinander. Sein Herz beginnt vor Aufregung und Angst schnell zu schlagen. Obwohl er jahrzehntelang nach bestem Wissen und Gewissen dem Gesetz gedient hat, hat man ihm das mit Verbannung vergolten und ihn gezwungen, sich damit abzufinden, dass es ihn und alles, was er je gekannt hat, nicht mehr gibt. An manchen Tagen kann er sich kaum noch erinnern, wer er einmal war, weil er die meiste Zeit nur noch in seinem Kopf lebt. Er lenkt sich ab - und manchmal ist er sogar damit zufrieden indem er philosophische, spirituelle und historische Bücher und Gedichte liest und die Tauben im Public Garden rings um den Froschteich füttert, wo er sich unter die Einheimischen und Touristen mischen kann.
Einen Anzug besitzt er nicht mehr. Das dichte, silbergraue Haar rasiert er bis auf die Kopfhaut und trägt dazu einen ordentlich gestutzten Bart. Allerdings strafen sein Körper und seine Haltung den Versuch Lügen, nicht besonders gut in Form und älter zu wirken, als er eigentlich ist. Sein Gesicht ist gebräunt, aber die Haut ist glatt und seine Haltung militärisch gerade. Er ist fit und muskulös und hat so wenig Körperfett, dass seine Venen unter der Haut sichtbar sind wie dünne Baumwurzeln, die sich durch die Erde bohren. In Boston gibt es viele Fitnessclubs und Möglichkeiten zum Joggen und Sprinten. Was seine Kondition und Beweglichkeit angeht , m acht er keine Kompromisse. Körperliche Schmerzen erinnern ihn daran, dass er noch lebt. Er gestattet sich keine festen Gewohnheiten, wann oder wo er laufen geht und trainiert, in welchen Läden er einkauft oder in welchen Restaurants er isst.
Als er sich nach rechts wendet, bemerkt er aufmerksam aus dem Augenwinkel die bärenhafte Gestalt von Pete Marino, die auf ihn zukommt. Benton stockt der Atem. Er zittert vor Angst und Freude, aber er winkt und lächelt nicht. Er hat mit seinem alten Freund und früheren Kollegen keinen Kontakt mehr gehabt, seit er angeblich gestorben ist und in einem Zeugenschutzprogramm Stufe eins verschwand, das eigens für ihn geschaffen und von der Londoner Polizei, Washington und Interpol gemeinsam organisiert wurde.
Marino setzt sich neben Benton auf den Picknicktisch, nachdem er diesen zuerst auf Vogelscheiße untersucht hat, nimmt eine Lucky Strike aus der Packung, lässt die Zigarette auftippen und zündet sie nach einigen vergeblichen Versuchen mit einem fast leeren Einwegfeuerzeug an.
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