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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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das Trinken einzuschränken. Sein Zwillingsbruder, der sich Jay Talley nennt, hatte das Glück, knappe drei Minuten nach Jean-Baptiste aus dem Mutterschoß zu schlüpfen. Er wurde als Inbegriff der Männlichkeit geboren, als goldene Skulptur mit einem wunderschönen Körper, schwarzem Haar, das im Sonnenlicht schimmert, und einem Gesicht wie von einem Künstler geschaffen. Er begeistert jeden, dem er begegnet, und Jean-Baptiste kann nur deshalb trotz der Ungerechtigkeit ihrer Geburt Genugtuung empfinden, weil Jay Talley, der in Wirklichkeit Jean-Paul Chandonne heißt, nicht so aussieht, wie er in Wirklichkeit ist. Und das macht ihn zu einem noch viel schlimmeren Ungeheuer, als Jean-Baptiste es je sein könnte.
    Jean-Baptiste ist nicht entgangen, dass die wenigen Minuten, die seine Geburt von der seines Bruders trennen, genau der Zeitspanne entsprechen, die er angeblich am 7. Mai zum Sterben brauchen wird. Ein paar Minuten, so lange lebten auch seine Auserwählten, während ihr Blut Gipfel und Täler an dieWände malte; diese erinnerten ihn sehr an ein abstraktes Gemälde, das er einmal gesehen hat und so gerne gekauft hätte. Doch er hatte weder Geld noch Platz, um es aufzuhängen. »Wer ist da?«, schreit er.

15
    Das knospende Frühlingsgrün am Ufer spiegelt sich im Charles River in Boston. Benton Wesley sieht zu, wie junge Männer in einem Rennboot in vollendetem Gleichtakt vorbeirudern.
    Muskeln schlagen Wellen wie die sanfte Strömung, Ruderblätter tauchen mit zartem Platschen ein. Benton könnte den ganzen Nachmittag zuschauen und schweigen. Der Tag ist vollkommen und wolkenlos, und die Temperatur beträgt zwanzig Grad. Einsamkeit und Schweigen sind Bentons ständige Begleiter geworden, und er sehnt sich inzwischen so unbeschreiblich danach, dass Gespräche ihn anstrengen und von langen Pausen durchsetzt sind, die manche Menschen als einschüchternd, andere wiederum als ärgerlich empfinden. Nur selten hat er mehr zu sagen als die Obdachlosen, die in Lumpenhaufen unter der Arthur-Fiedler-Fußgängerbrücke schlafen. Er hat es sogar geschafft, den lauten, unbekümmerten Max aus dem Cafe Esplanade zu kränken, wo Benton sich hin und wieder ein Ingwerbier, Cracker-Jacks oder eine Brezel genehmigt. Schon die erste Bemerkung, die Benton je an Max gerichtet hat, hat dieser in den falschen Hals bekommen.
    »Change.« Mehr hat Benton, begleitet von einem Kopfschütteln, nicht gemurmelt.
    Max ist Deutscher, hat im Englischen oft Verständnisschwierigkeiten und ist leicht beleidigt. Deshalb hat er die geheimnisvolle Aufforderung so gedeutet, dass dieser Schlaumeier in Joggingkleidung und mit dunkler Sonnenbrille alle Ausländer für minderwertig und betrügerisch hält und deshalb das ihm zustehende Wechselgeld (change) für den Fünf- Dollar-Schein fordert, den Max gerade in die Kasse gelegt hat. In anderen Worten: Er hält den schwer arbeitenden Max für einen Dieb.
    In Wirklichkeit hat Benton jedoch gemeint, dass Cracker- Jacks im Cafe Esplanade inzwischen in Tüten, nicht mehr in Schachteln verkauft werden und einen Dollar anstelle von fünfundzwanzig Cent kosten. Die Spielzeug-Überraschung darin besteht aus einer auf gefaltetes weißes Papier gedruckten Denkaufgabe, billig wie nur irgendwas, die den Intelligenzquotienten einer Taube erfordert. Vorbei sind die Tage von Bentons Kindheit, als er, die klebrigen Finger im karamellisierten Popcorn, nach Schätzen wie einer Plastikpfeife, einem BB- Spiel oder - das Allerbeste - einem Decodierring wühlte. Der kleine Benton trug den Ring am Zeigefinger und tat so, als verliehe er ihm die Macht zu wissen, was andere Menschen dachten, was sie tun würden und welche Ungeheuer er auf seiner nächsten geheimen Mission erlegen musste.
    Die Ironie der Geschichte, dass er später als Erwachsener tatsächlich einen ganz besonderen Ring tragen durfte - einen aus Gold mit eingraviertem FBI-Emblem -, entgeht ihm nicht. Außerdem hat er sich tatsächlich darauf spezialisiert, die Gedanken, Motive und Handlungen von Personen zu deuten, die von der Öffentlichkeit als Ungeheuer bezeichnet werden. Benton hat das angeborene Talent, die Intuition und den nötigen Verstand, um sich in die neurologischen und geistigen Abgründe der schrecklichsten Menschenschlächter zu versenken. Er machte Jagd auf schwer zu fassende Täter, deren Sexualverbrechen so grausam waren, dass von Panik erfüllte Polizisten aus dem In- und Ausland Schlange standen, damit er in der Profiling-Abteilung der

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