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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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enden.«
    »Kann sein. Gerüchten zufolge warst du ja mal ein richtiger Brocken.«
    Benton kennt Fotos von Marino aus den frühen Anfangstagen seiner Karriere, als er noch uniformierter Streifenpolizist in New York war. Damals war er breitschultrig und attraktiv, ein toller Typ, bevor er anfing, sich gehen zu lassen und sich gnadenlos selbst zu schädigen, so als hasse er seinen eigenen Körper und wolle ihn töten, um ihn endlich loszuwerden.
    Benton steht vom Picknicktisch auf. Er und Marino gehen in Richtung Fußgängerbrücke.
    »Hoppla.« Marino grinst fies. »Hab ganz vergessen, dass du schwul bist. Wahrscheinlich sollte ich mit meinen Bemerkungen über warme Brüder und Lesben vorsichtiger sein. Aber wenn du versuchst, Händchen mit mir zu halten, reiß ich dir den Kopf ab.«
    Marino hat schon immer Probleme mit Homosexuellen gehabt, doch noch nie hat er sich in diesem Zusammenhang so unbehaglich und verwirrt gefühlt wie in dieser Lebensphase. Seine Einstellung, dass schwule Männer Perverse sind und dass lesbische Frauen durch Sex mit Männern kuriert werden können, wurde erschüttert. Inzwischen hat er keine Ahnung mehr, was er von Leuten halten soll, die Menschen ihres eigenen Geschlechts begehren, und seine zynischen, hässlichen Bemerkungen klingen dumpf wie eine in Blei gegossene Glocke. In den letzten Jahren ist er Agnostiker geworden, ein Kompass ohne magnetischen Norden. Seine Überzeugungen schwanken ständig hin und her.
    »Wie ist es denn so, wenn alle glauben, dass du ... na, du weißt schon«, fragt Marino. »Hoffentlich hat noch keiner versucht, dich zusammenzuschlagen.«
    »Was die Leute von mir denken, interessiert mich nicht«, antwortet Benton leise, befangen wegen der Passanten, die ihnen auf der Fußgängerbrücke entgegenkommen, und der Autos, die unter ihnen auf dem Storrow Drive entlangrasen - als ob jeder in einem Umkreis von dreißig Metern sie beobachten und belauschen würde. »Wann warst du zum letzten Mal beim Fischen?«

16
    Marinos Stimmung verfinstert sich zunehmend, als sie im Schatten der zu beiden Seiten des kopfsteingepflasterten Pfads wachsenden japanischen Kirschbäume dahinschlendern.
    Wenn er besonders übler Laune ist - für gewöhnlich, während er spätnachts allein Bier oder gläserweise Bourbon in sich hineinkippt -, ärgert er sich über Benton Wesley und verabscheut ihn fast, weil er bei allen Menschen, die ihm etwas bedeuten, das Leben auf den Kopf gestellt hat. Sein Tod wäre einfacher zu verkraften gewesen. Marino redet sich ein, dass er inzwischen sicher schon darüber hinweg wäre. Doch wie verarbeitet man einen Verlust, der nie wirklich stattgefunden hat, und lebt mit einem Geheimnis weiter?
    Aus diesem Grund schimpft Marino, wenn er allein und betrunken ist und sich in seine Raserei hineingesteigert hat, laut auf Benton, zerdrückt eine Bierdose nach der anderen und schleudert sie durch sein kleines, unaufgeräumtes Wohnzimmer.
    »Schau, was du ihr angetan hast«, schreit er die Wände an. »Schau, was du ihr angetan hast, du gottverdammter Dreckskerl!«
    Dr. Kay Scarpetta geht wie ein Gespenst zwischen Marino und Benton, während sie weiterspazieren. Sie ist eine der faszinierendsten und beachtlichsten Frauen, die Marino je kennen gelernt hat. Dass Benton gefoltert und ermordet worden sein soll, war für sie so, als hätte man ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Auf Schritt und Tritt stolperte sie über Bentons Leiche - dabei hat Marino von Anfang an gewusst, dass der grausige Mord an ihm bis hin zur Autopsie, den Laborberichten, der Sterbeurkunde und der Asche, die Scarpetta auf der Insel Hilton Head, einem Ferienort, den sie und Benton liebten, in den Wind gestreut hat, nur vorgetäuscht war.
    Die Asche und Knochensplitter wurden vom Boden eines Krematoriums in Philadelphia zusammengekratzt. Reste. Der Himmel weiß, von wem. Marino hat sie Scarpetta in einer billigen kleinen Urne überreicht, die man ihm am Gerichtsmedizinischen Institut in Philadelphia übergeben hatte. »Tut mir Leid, Doc, tut mir echt Leid, Doc«, war alles, was ihm dazu einfiel. Schwitzend in Anzug und Krawatte, stand er im feuchten Sand und sah zu, wie sie die Asche im Luftzug eines kreisenden Helikopters verstreute, der von Lucy gesteuert wurde. In einem Orkan aus brodelndem Wasser und wirbelnden Rotoren wurden die angeblichen Überreste von Scarpettas Geliebtem so weit weggetragen wie ihr Schmerz. Marino starrte Lucy ins harte Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick durch

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