Die Dämonen ruhen nicht
FBI-Akademie in Quantico, Virginia, ihre Fälle mit ihnen durchging. Benton Wesley war der legendäre Leiter der Abteilung, der stets einen konservativen Anzug und einen großen goldenen Ring trug.Man traute ihm zu, aus Berichten und albtraumhaften Fotos Hinweise herauslesen zu können, die den Ermittlern entgangen waren; es war, als ginge es bei den Sitzungen in dem muffigen, fensterlosen Raum, wo nur grimmige Stimmen, das Herumschieben von Papieren auf dem Konferenztisch und gedämpfte Schüsse aus dem Schießstand zu hören waren, darum, einen magischen Preis zu erringen. Während des Großteils seiner Berufsjahre beim FBI war Bentons Welt J. Edgar Hoovers ehemaliger unterirdischer Bunker, wo manchmal die Rohre der darüber gelegenen Academy-Toiletten auf den abgewetzten Teppichboden leckten oder stinkende Rinnsale die Betonwände herunterliefen.
Nun, mit fünfzig Jahren, ist in Benton die bittere Erkenntnis gereift, dass das Erstellen von psychologischen Profilen rein gar nichts mit Psychologie zu tun hat. Es handelt sich um nichts weiter als um Formeln und Annahmen auf der Grundlage von jahrzehntealten Daten. Profiling ist Propaganda und Marketing. Es ist eine Mode. Nur ein weiteres Verkaufsargument, das der Beschaffung von Bundesmitteln dient, wenn die FBI-Lobbyisten das Kapitol unsicher machen. Schon allein bei dem Wort Profiling knirscht Wesley mit den Zähnen, er kann es nicht ertragen, wie seine frühere Tätigkeit missverstanden und missbraucht wird. Inzwischen hat sie sich in eine überstrapazierte Taktik nach Hollywood-Manier verwandelt, bestehend aus abgedroschenen und fehlerhaften verhaltenspsychologischen Ansätzen, Anekdotenwissen und Mutmaßungen. Das moderne Profiling basiert nicht auf logischen Schlüssen, sondern ist so willkürlich und irreführend wie die Physiognomie und die Anthropometrie - also die gefährlichen und lächerlichen Pseudowissenschaften vergangener Jahrhunderte, denen zufolge Mörder wie Höhlenmenschen aussahen und anhand ihres Schädelumfangs oder der Länge ihrer Arme zweifelsfrei zu erkennen waren. Profiling ist Katzengold, und da Benton zu diesem Ergebnis gekommen ist, ist er mit einem
Priester zu vergleichen, der beschlossen hat, dass es keinen Gott gibt.
Ganz gleich, was die Leute behaupten, was Statistiken und epidemiologische Studien feststellen und intellektuelle Gurus auch predigen mögen - mittlerweile ist Bentons einzige Konstante die Veränderung (change). Heutzutage begehen Menschen mehr Morde, pädophile Akte, Entführungen, Terroranschläge oder schlicht und ergreifend betrügerische, egoistische Vergehen gegen andere Lebewesen, als die freie Welt es je gesehen hat. Benton grübelt viel darüber nach, denn er hat jetzt jede Menge Zeit dafür. Max hält Benton, dessen Namen er nicht kennt, für einen intellektuellen, versnobten Spinner, vermutlich Professor in Harvard oder am Massachusetts Institute of Technology, und darüber hinaus für einen ausgesprochenen Muffel. Der junge Deutsche hat noch nie die gelegentliche Ironie oder den trockeneisähnlichen Humor erlebt, für die Benton berühmt war, als man ihn noch kannte. Allerdings kennt ihn inzwischen fast niemand mehr.
Max redet mittlerweile kein Wort mehr mit ihm, nimmt nur das Geld und zählt unter großem Tamtam Bentons Wechselgeld ab, bevor er dem Blödmann die Münzen, ein Stück Käsepizza, ein Sodawasser oder eine Tüte Cracker-Jacks hinschiebt.
Allerdings spricht er bei jeder Gelegenheit über Benton.
»Letztens hat er eine Brezel gekauft«, berichtet er Nosmo King, dem Fahrer des Lieferwagens, dessen geheimnisvoll klingender Name einfach nur daher rührt, dass seine Mutter die Aufschrift »No Smoking« als »No Smo King« gelesen hat, als sie zur Entbindung in den Kreißsaal gerollt wurde und die Doppeltür sich öffnete.
»Er isst seine Brezel da drüben« - Max deutet mit seiner Zigarette zu einem Blätterdach aus alten Eichen - »und glotzt wie ein Zombie den hängen gebliebenen Drachen an« - wieder deutet er mit der Zigarette und weist mit dem Kopf auf den zerfledderten roten Drachen, der hoch in den Ästen einer Eiche hängt. »So als wäre das Ding ein wissenschaftliches Phänomen oder ein Symbol Gottes. Vielleicht ein UFO.«
Nosmo King, der gerade Kisten mit Fiji-Mineralwasser in den Kiosk des Cafe Esplanade stapelt, hält inne und schützt seine Augen vor der Sonne, während sein Blick der Bewegung von Max’ Zigarette hinauf zu dem kaputten Drachen folgt.
»Ich weiß noch, wie
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