Die Dämonen ruhen nicht
hat er sich mit dir in Verbindung gesetzt?« Bentons Blick wird eindringlich wie früher, und er ist plötzlich wieder ganz Profi.
»Mit Briefen.«
»Ist uns bekannt, an wen er außer dir sonst noch geschrieben hat?«
»Doc Scarpetta. Ihr Brief wurde an mich weitergeleitet. Ich habe ihn ihr nicht gezeigt; das wäre nicht sehr sinnvoll.«
»An wen noch?«
»Lucy.«
»Ging ihr Brief auch an dich?«
»Nein, direkt an ihr Büro. Keine Ahnung, woher er die Adresse oder den Namen Das Letzte Revier hat, denn der steht nicht im Telefonbuch. Alle Welt glaubt, ihre Firma hieße Infosearch Solutions.«
»Woher könnte er wissen, dass Leute wie du und Lucy ihr
Unternehmen als Das Letzte Revier bezeichnen? Würde ich den Namen finden, wenn ich jetzt ins Internet gehe?«
»Nicht den, von dem wir reden.«
»Würde ich Infosearch Solutions finden?«
»Klar.«
»Steht ihre Büronummer im Telefonbuch?«, erkundigt sich Benton.
»Unter Infosearch Solutions.«
»Also kennt er möglicherweise den offiziellen Namen ihrer Firma. Dann hat er die Auskunft angerufen und auf diese Weise die Adresse gekriegt. Offen gestanden kann man heutzutage fast alles im Internet finden; für knapp fünfzig Dollar bekommt man sogar Geheim- und Mobilfunknummern.«
»Ich denke nicht, dass Wolfmann in seiner Zelle im Todestrakt einen Computer hat«, wendet Marino gereizt ein.
»Rocco Caggiano könnte es ihm eingeflüstert haben«, erinnert ihn Benton. »Er muss irgendwann Lucys Büronummer gehabt haben, schließlich wollte er sie vorladen. Aber dann hat Jean-Baptiste sich ja schuldig bekannt.«
»Klingt, als würdest du dich auf dem Laufenden halten.« Marino versucht, das Gespräch vom Thema Rocco Caggiano abzulenken.
»Hast du seinen Brief an Lucy gelesen?«
»Sie hat mir davon erzählt, aber sie wollte ihn nicht faxen oder mailen.« Das gefällt Marino auch nicht. Offenbar wollte Lucy verhindern, dass er das Schreiben sieht.
»Hat sonst noch jemand einen Brief erhalten?«
Achselzuckend trinkt Marino einen Schluck Bier. »Keine Ahnung. An dich schreibt er offenbar nicht.« Er findet das lustig.
Benton lächelt nicht.»Weil du tot bist, stimmt’s?« Marino nimmt an, dass Benton den Witz nicht verstanden hat. »Tja, wenn ein Sträfling im Gefängnis seine ausgehende P ost mit >Anwaltsbrief< oder >Me dienbrief< beschriftet, dürfen die Beamten ihn laut Gesetz nicht öffnen. Falls Wolfmann also Brieffreunde hat, die Anwälte oder Journalisten sind, fällt der Inhalt der Schreiben unter den Datenschutz.«
Er fingert weiter am Etikett seiner Bierflasche herum und tut so, als müsste er Benton die Abläufe im Strafvollzug erklären - obwohl dieser im Laufe seines Berufslebens Hunderte von Gewaltverbrechern vernommen hat.
»Wir können die möglichen Adressaten nur anhand seiner Besucherliste nachprüfen, denn viele Leute, denen diese Mistkerle schreiben, kommen sie auch besuchen. Wolfmann hat so eine Liste. Lass mich mal überlegen, wer da drauf steht. Der Gouverneur von Texas, der Präsident...«
»Der Präsident der Vereinigten Staaten etwa?« Es ist Bentons Markenzeichen, dass er alles ernst nimmt.
»Ja«, erwidert Marino. Es erschreckt ihn, Gesten und Reaktionen zu sehen, die ihn an den Benton von früher erinnern, mit dem er zusammengearbeitet hat - den Benton, der sein Freund war.
»Wer sonst noch?« Benton steht auf und nimmt einen Notizblock und einen Stift von dem ordentlichen Stapel aus Papieren und Zeitschriften, der auf dem Küchentisch neben dem Computer liegt.
Dann setzt er eine Nickelbrille auf, eine sehr kleine im John- Lennon-Stil, wie er sie in seinem früheren Leben nie getragen hätte. Nachdem er sich hingesetzt hat, schreibt er Uhrzeit, Datum und Ort auf ein leeres Blatt Papier. Von seinem Sitzplatz aus kann Marino das Wort »Täter« erkennen. Doch was in Bentons kleiner, kritzeliger Handschrift darunter steht, ist, insbesondere auf dem Kopf stehend, nicht mehr zu entziffern.
Marino beantwortet seine Frage. »Sein Vater und seine Mutter sind auf der Liste. Das ist doch echt ein Witz, oder?«
Bentons Stift verharrt auf der Stelle. »Was ist mit seinem Anwalt? Rocco Caggiano.«Marino lässt das Bier auf dem Boden der Flasche kreisen.
»Rocco«, hakt Benton, ein wenig schärfer, nach. »Sagst du’s mir?«
Wut und Scham malen sich auf Marinos Gesicht. »Vergiss aber nicht, dass er eigentlich nicht von mir ist. Er ist nicht bei mir aufgewachsen, und ich kenne ihn nicht; ich will ihn gar nicht kennen und würde ihm
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