Die Dämonen ruhen nicht
BITTE-NICHT-STÖREN-Schild an die Tür. Eine halbe Stunde später saß sie wieder im Auto.
Wenn bei einer Mission schwere Bewaffnung angesagt ist, werden eine Pistole und Ersatzmagazine in ein angeblich verlorenes, schlampig mit dem Klebeband einer Fluggesellschaft zusammengeschnürtes Gepäckstück gesteckt und von einem von Lucys Mitarbeitern in der entsprechenden Verkleidung an der Hotelrezeption abgeliefert. Lucy hat viele Mitarbeiter. Die meisten sind ihr nie begegnet und wissen nicht, wer sie ist. Nur ihr engstes Team kennt sie. Sie kann sich auf sie verlassen und umgekehrt. Das genügt.
Sie nimmt das internationale Mobiltelefon vom Schoß und drückt auf Wiederwahl.
»Ich bin unterwegs«, verkündet sie, als sich Rudy Musil meldet. »Noch eine Stunde und fünfzehn Minuten, wenn ich nicht so rase.«
»Tu es nicht.« Im Hintergrund plärrt ein Fernseher.
Lucy wirft einen Blick auf den Tacho, wo die Nadel gerade 120 Stundenkilometer überschreitet. Auch wenn sie das Risiko liebt, ist sie nie leichtsinnig. Und sie hat nicht die Absicht, sich mit der Polizei anzulegen, als sie sich der bedeutendsten, aber leidgeprüftesten Hafenstadt Polens nähert. Amerikaner werden in Stettin nur selten gesehen. Was sollten sie auch dort wollen? Sicherlich nicht die Sehenswürdigkeiten betrachten, außer vielleicht den nahe gelegenen Konzentrationslagern einen Besuch abstatten. Jahrelang fangen die Deutschen nun schon ausländische Schiffe mit Kurs auf den Hafen von Stettin ab und beeinträchtigen so Tag für Tag das Geschäftsleben in der Stadt, sodass das einstige Juwel der Architektur, Kultur und Kunst zunehmend Opfer von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise wird.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem Hitler versuchte, Polen von der Landkarte zu bomben und seine Bevölkerung auszulöschen, wurde nur wenig getan, um Stettin den alten Glanz wiederzugeben. Es ist nahezu unmöglich, hier seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nur wenige Menschen wissen, wie es ist, in einem hübschen Haus zu wohnen, ein ordentliches Auto zu fahren, schöne Kleider zu tragen, Bücher zu kaufen oder Urlaub zu machen. Es heißt, dass in Polen nur die Mitglieder der Russenmafia und der Verbrecherkartelle über Geld verfügen. Und mit wenigen Ausnahmen trifft das auch zu.
Ständig beobachtet Lucy die Straße. Ihr Lächeln verschwindet, und ihr Blick wird argwöhnisch.
»Heckscheinwerfer voraus; das gefällt mir nicht«, sagt sie ins Mobiltelefon. »Der Wagen wird langsamer.« Sie nimmt den Fuß vom Gas. »Jetzt stoppt er mitten auf der gottverdammten Straße. Keine gute Stelle zum Anhalten.«
»Bleib nicht stehen. Fahr drum herum«, erwidert Rudy.
»Eine Limousine, die eine Panne hat. Komisch, hier eine amerikanische Limousine zu sehen.«
Lucy umrundet den weißen Lincoln mit Langchassis. Der Fahrer und ein Beifahrer steigen aus, und sie muss dem Bedürfnis widerstehen, anzuhalten und zu helfen.
»Mist«, murmelt sie ärgerlich.
»Daran darfst du nicht einmal denken«, warnt Rudy, der Lucys überentwickelte Risikobereitschaft und ihren Drang, die Welt zu retten, nur zu gut kennt.
Als sie aufs Gas tritt, versinken die Limousine und ihre Insassen hinter ihr in der undurchdringlichen Dunkelheit.
»Um diese Uhrzeit ist die Rezeption nicht besetzt. Weißt du, wo du hinmusst?«, vergewissert sich Rudy.Fehler kommen nicht in Frage. Sie darf auf keinen Fall gesehen werden.
Immer wieder wirft Lucy einen Blick in den Rückspiegel, voller Sorge, die Limousine könnte sie einholen und sich als Bedrohung entpuppen. Ihr Magen krampft sich zusammen. Was ist, wenn diese Leute wirklich Hilfe brauchten? Sie hat sie in der Dunkelheit allein auf der dunklen E28 zurückgelassen, wo es keine Möglichkeit gibt, rechts ranzufahren. Wahrscheinlich wird ein Lastwagen sie überrollen.
Kurz überlegt sie, ob sie schnell zur nächsten Ausfahrt fahren und umkehren soll. Das tut sie auch für verirrte Hunde und für Schildkröten, die Highways und Straßen überqueren. Sie bremst immer für Murmeltiere und Eichhörnchen und läuft nach draußen, um nach den Vögeln zu sehen, die gegen ihre Fensterscheiben fliegen. Doch mit Menschen ist es eine andere Sache. Sie darf das Risiko nicht eingehen.
»Du kannst das Radisson nicht übersehen«, sagt Rudy. »Park nur nicht auf der Fläche für die Busse. Das hat man dort nämlich nicht gern.«
Das ist ein Scherz. Dass Lucy nicht am Radisson parken wird, versteht sich von selbst.
25
In Delray Beach, Florida, ist es
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