Die Dämonen ruhen nicht
lassen. Inzwischen geht Scarpetta davon aus, dass die Toten weiter existieren und sich in das Leben ihrer noch auf Erden weilenden Freunde und Feinde einmischen. Diese Überzeugung hält sie vor ihren Widersachern geheim und verliert auch in ihren Vorträgen und Zeitschriftenartikeln oder vor Gericht niemals ein Wort darüber.
»Ich habe Wahrsager im Fernsehen von Leuten erzählen hören, die gestorben und in die andere Welt hinübergegangen sind - ich glaube, so war der Ausdruck«, stellte Lucy fest und trank einen Schluck Eierpunsch. »Ich weiß nicht, das klingt doch recht interessant. Je älter ich werde, desto unsicherer erscheinen mir die meisten Dinge.«
»Dein fortgeschrittener Alterungsprozess ist mir nicht entgangen«, gab Scarpetta zurück. »Wenn du dreißig bist, bekommst du wahrscheinlich Visionen oder siehst Auras. Wir können nur hoffen, dass du nicht auch noch Arthritis kriegst.«
Dieses Gespräch fand in Scarpettas ehemaligem Zuhause in Richmond statt, einer steinernen Festung, die sie mit Liebe und unter Missachtung jeglichen vernünftigen Umgangs mit Geld geplant hatte. Sie hatte keine Kosten gescheut und auf alten Hölzern, frei liegenden Balken, massiven Türen, verputzten Wänden und einer Küche und einem Büro bestanden, die genau ihrer Herangehensweise an anfallende Aufgaben entsprachen, sei es gebeugt über ein Mikroskop oder an einem Vi- king-Gasherd stehend.
Ihr Leben war schön. Und dann war plötzlich Schluss damit, und es würde auch nie mehr so werden wie früher. So vieles ist unwiederbringlich zerstört und verloren. Vor drei Jahren war Scarpetta auf dem Weg ins Unglück schon ein gutesStück vorangekommen. Sie war als Vorsitzende des Verbandes amerikanischer Leichenbeschauer zurückgetreten. Der Gouverneur von Virginia war im Begriff, ihr zu kündigen. Und eines Tages hat sie dann die Wände ihres Büros von den unzähligen Empfehlungsschreiben, Urkunden und Zeugnissen befreit, die nun irgendwo in Pappkartons verpackt sind. Die Scarpetta vor dem Zusammenbruch war völlig - wenn nicht gar bis hin zur Unbeweglichkeit - kopfgesteuert und sich ihrer Fachkompetenz, ihrer Aufrichtigkeit und ihres analytischen Spürsinns voll bewusst. In der Welt der Strafverfolgung und in Justizkreisen war sie eine Legende und wirkte auf einige Menschen unnahbar und kalt. Inzwischen hat sie keine Mitarbeiter mehr bis auf ihre Sekretärin Rose, die ihr nach Florida gefolgt ist, und zwar unter dem Vorwand, es wäre doch nett, sich in der Nähe von West Palm Beach »zur Ruhe zu setzen«.
Scarpetta kann Benton Wesleys Tod nicht verwinden. Sie hat es versucht. Einige Male ist sie mit wirklich interessanten Männern ausgegangen, doch sie ist stets zusammengezuckt, wenn diese sie anfassen wollten. Eine einfache Berührung von jemandem, der nicht Benton ist, und schon fällt ihr wieder alles ein. Dann steht ihr das letzte Bild von ihm, verbrannt und verstümmelt, vor Augen. Sie bereut immer noch - und dann wieder nicht -, dass sie seinen Autopsiebericht gelesen hat. Und sie bedauert - und dann wieder nicht -, seine Asche berührt und sie verstreut zu haben. Es war sehr wichtig zu spüren, das sagt sie sich zumindest ständig, wenn sie sich daran erinnert, wie sich seine seidigen, klumpigen Überreste angefühlt haben. Dann denkt sie daran, dass sie ihn der reinen Luft und dem Meer zurückgegeben hat, die er so liebte.
Scarpetta verlässt die Küche, in der Hand dieselbe Kaffeetasse, deren Inhalt sie seit Mittag schon mindestens vier Mal in der Mikrowelle aufgewärmt hat.
»Dr. Scarpetta, kann ich Ihnen etwas bringen?«, ruft Rose aus dem Gästezimmer, das ihr als Büro dient.
»Nichts, was mir etwas helfen würde«, erwidert Scarpetta, halb im Scherz, in die Richtung, aus der Roses Stimme kommt.
»Unsinn.« Das ist die Lieblingsantwort ihrer Sekretärin. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie noch viel beschäftigter sein würden, wenn Sie sich selbstständig machen, falls das überhaupt geht. Außerdem abgearbeiteter und erschöpfter.«
»Und was habe ich Ihnen zum Thema Ruhestand erzählt?«
Rose blickt von dem Autopsiebericht auf, den sie gerade auf dem Computerbildschirm Korrektur liest, schaltet in die Spalte mit der Überschrift Gehirn, tippt 1.200 Gramm, innerhalb der Norm ein und verbessert einen Schreibfehler.
Krallen klappern über den Holzboden wie ein Morsecode, als Scarpettas Bulldogge Stimmen hört, träge hereintrottet, stehen bleibt, sich noch ein paar Schritte nähert und sich
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