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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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um sechs Uhr abends noch heiß. Kay Scarpetta wendet sich vom Küchenfenster ab und beschließt, ein weiteres Stündchen zu arbeiten, bevor sie sich nach draußen wagt.
    Inzwischen ist sie Expertin darin geworden, Licht und Schatten zu beurteilen und sie wissenschaftlich zu bewerten, ehe sie das Haus verlässt, um nach ihren Obstbäumen zu sehen oder einen Strandspaziergang zu machen. Das Treffen verhältnismäßig sinnloser Entscheidungen auf der Basis von Analyse und Berechnungen des Weges der Sonne über den Himmel gibt ihr das Gefühl, dass sie ihr Leben noch einigermaßen im Griff hat.
    Ihr zweigeschossiges, gelb verputztes Haus ist für ihre Verhältnisse recht bescheiden, nichts weiter als eine alte Falle mit wackeligen weißen Geländern, angeschlagenen Strom- und Wasserleitungen und Klimaanlage, die es offenbar auf sie abgesehen hat. Hin und wieder fallen in der Nische hinter dem Elektroherd Kacheln herunter, und gestern ist der Kaltwasserhahn der Badewanne aus der Wand gebrochen. Aus reinem Überlebenswillen hat Scarpetta einige Heimwerkerbücher gelesen und schafft es dadurch, zu verhindern, dass ihr das Haus über dem Kopf zusammenstürzt. Dabei versucht sie, nicht daran zu denken, wie es damals war, als sie Hunderte von Kilometern nach Süden und weit weg von ihrer ehemaligen Karriere gezogen ist, eine knappe Autostunde nach Norden entfernt von ihrer Geburtsstadt Miami. Die Vergangenheit ist tot, und der Tod ist nichts weiter als ein Stadium der Existenz. So lautet ihre Devise. Die meiste Zeit glaubt sie es auch.
    Das irdische Leben ist eine Gelegenheit, sich in Richtung höherer Sphären zu entwickeln. Danach bewegen sich die Menschen weiter oder überschreiten die Grenze zum Jenseits. Scarpetta hat dieses Konzept zwar nicht selbst erfunden, gehört aber zu den Leuten, die Dinge, welche nicht auf den ersten Blick augenscheinlich sind, nicht hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. Nach einigen Überlegungen ist sie in Sachen Ewigkeit zu einem schlichten Ergebnis gekommen: Weder Gute noch Böse hören auf zu sein; das Leben ist Energie, und Energie kann man nicht schaffen oder zerstören. Sie wird wiederverwertet. Und deshalb ist es durchaus möglich, dass Menschen, die reinen Herzens sind, ebenso wie auch die wahrhaft Bösen schon früher einmal hier waren und zurückkommen werden. Scarpetta glaubt nicht an Himmel und Hölle, und sie geht nicht mehr in die Kirche, nicht einmal an religiösen Feiertagen.
    »Was ist mit deinem katholischen Schuldkomplex passiert?«, hat Lucy sie vor ein paar Jahren an Weihnachten gefragt, als sie gerade einen ziemlich starken Eierpunsch mischten und ein Kirchgang nicht eingeplant war.
    »Ich kann mich nicht an etwas beteiligen, an das ich nicht mehr glaube«, erwiderte Scarpetta und griff nach dem frisch gemahlenen Muskat. »Insbesondere dann nicht, wenn ich damit sogar auf Kriegsfuß stehe, was noch schlimmer ist, als völlig vom Glauben abgefallen zu sein.«
    »Die Frage ist, was du mit >damit< meinst. Sprichst du vom Katholizismus oder von Gott?«
    »Von Politik und Macht. Ihnen haftet ein unverkennbarer Gestank an, ungefähr so wie dem Inneren der Kühlkammer im Leichenschauhaus. Ich kann mit geschlossenen Augen sagen, was ich vor mir habe: nichts Lebendiges.«
    »Danke für die Ausführungen«, entgegnete Lucy. »Vielleicht genehmige ich mir lieber einen Rum auf Eis. Auf rohe Eier habe ich plötzlich keinen Appetit mehr.«
    »Du bist ja überhaupt kein bisschen zimperlich.« Scarpetta schenkte Lucy ein Glas Eierpunsch ein und streute eine Prise Muskat darüber. »Trink aus, bevor Marino kommt, sonst bleibt für uns nichts mehr übrig.«
    Lucy schmunzelte. Ihr wird nur übel, wenn sie in der Damentoilette jemanden beim Windelwechseln überrascht. Für Lucy ist dieser Gestank schlimmer als der einer verwesenden, von Schmeißfliegen umschwirrten Leiche, ein grausiger Anblick, der ihr dank der ungewöhnlichen Berufe, die sie und ihre Tante ausüben, schon oft genug vergönnt war.
    »Heißt das, du glaubst nicht mehr an die Ewigkeit?«, fragte Lucy herausfordernd.
    »Ich glaube mehr denn je daran.«
    Den Großteil ihres Lebens hat Scarpetta die Toten zumSprechen gebracht; allerdings stets in der lautlosen Sprache der Verletzungen, Rückstände, Krankheiten und Indizien, die sich durch medizinische Kenntnisse, wissenschaftliche Methoden, Erfahrung und eine ans Intuitive grenzende Kombinationsfähigkeit - ein Talent, das man weder erlernen noch jemandem beibringen kann - deuten

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