Die Dämonen ruhen nicht
einem Entwässerungsgraben. Guarino arbeitete gerade an einem Enthüllungsbericht über die Familie Chandonne - ein ziemlich riskantes Unterfangen - und kam von einem Interview mit einem Anwalt, der Jean- Baptiste Chandonne vertritt...«
»Schon gut. Über diesen Fall weiß ich Bescheid. Der Wolfmann - so nennen sie ihn doch.«»Er war auf dem Titelblatt von People , Time Magazine und so weiter. Vermutlich kennen alle Wolfmann, den Serienmörder«, erwiderte Lucy. »Guarino wurde wenige Stunden nach seinem Gespräch mit Caggiano ermordet. Als Nächstes war ein Journalist namens Emmanuelle La Fleur dran. Barbizon, Frankreich, am 11. Februar 1997. Er arbeitete für Le Monde und war ebenfalls so leichtsinnig, über die Familie Chandonne schreiben zu wollen.«
»Warum dieses Interesse an den Chandonnes, abgesehen davon, dass die armen Leute die Eltern von Jean-Baptiste sind?«
»Organisiertes Verbrechen. Ein riesiges Kartell. Es wurde nie nachgewiesen, dass der Vater es leitet, doch es ist so. Gerüchte waren im Umlauf, und manchmal lassen sich Reporter von möglichen Sensationsstorys und Preisen blenden. Wenige Stunden nachdem La Fleur sich mit Caggiano ein paar Drinks genehmigt hatte, wurde die Leiche des Journalisten in einem Garten unweit des früheren Chateau des Malers Jean Francois Millet gefunden. Den brauchen Sie übrigens nicht zu suchen, er ist seit mehr als hundert Jahren tot.«
Lucy wollte nicht sarkastisch sein. Sie ging nur nicht davon aus, dass der Name Millet allgemein bekannt ist, und wollte verhindern, dass der Künstler auf die Liste von Interpol geriet.
»La Fleur wurde in den Kopf geschossen. Die 10-Millime- ter-Kugel stammte aus derselben Waffe, mit der auch Guarino ermordet wurde«, erklärte sie.
Und es gab noch weitere Informationen, die aus einem Brief von Jean-Baptiste Chandonne stammten.
»Ich werde Ihnen den Brief sofort mailen«, fuhr Lucy fort, ein Übertragungsweg, an den erst zu denken ist, seit Interpol das Internet benutzt.
Allerdings verfügt das computergestützte Kommunikationsnetzwerk von Interpol über mehr als genug Firewalls, hieroglyphenartige Verschlüsselungen und Hacker-Suchsysteme, um die Sicherheit der übermittelten Nachrichten zu ga rantieren. Lucy weiß das. Denn als man sich bei Interpol ans Internet anschloss, ist sie vom Generalsekretär persönlich dazu aufgefordert worden, sich hineinzuhacken. Sie hat es nicht geschafft; es ist ihr nicht einmal gelungen, die erste Firewall zu überwinden. Insgeheim ärgert es sie, dass sie versagt hat, aber eigentlich ist sie erleichtert über ihr Scheitern.
Der Generalsekretär rief sie ziemlich amüsiert an, las ihr eine Liste ihrer Benutzernamen und Passwörter vor und kannte auch den Standort ihres Computers.
»Keine Sorge, Lucy, ich schicke Ihnen nicht die Polizei ins Haus«, witzelte er.
»Merci beaucoup, Monsieur Hartman«, erwiderte sie, obwohl der Generalsekretär Amerikaner ist.
Von New York nach London, von dort aus nach Berlin und nun über die Grenze nach Polen. Lucy spürt, dass die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt worden ist. Doch keiner der Beamten hat sie ernst genommen oder sich sonst für die junge Amerikanerin interessiert, die in einem gemieteten Mercedes sehr spät durch die kühle Frühlingsnacht fährt. Offenbar hat sie nicht den Eindruck einer Terroristin gemacht, und das ist sie auch nicht. Allerdings hätte sie eine sein können, weshalb es leichtsinnig ist, sie nur wegen ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Jugend, ihres Äußeren und eines Lächelns, das auf Kommando warm und einnehmend sein kann, nicht für eine Bedrohung zu halten.
Lucy ist viel zu klug, um eine Schusswaffe zu tragen. Falls sie in Schwierigkeiten gerät - nicht mit der Polizei, sondern mit irgendeinem Idioten unterwegs, der meint, sie berauben oder aus anderen Gründen überfallen zu können -, wird der Totschläger genügen. Es war kein Problem, ihn nach Deutschland einzuschmuggeln. Sie hat eine bewährte Methode angewendet, die sie bis jetzt noch nie im Stich gelassen hat, und ihn per Nachtkurier in einem Kulturbeutel voller Haarpflegeuten silien (Lockenstab, Rundbürste, Föhn etc.) verschickt. Das Päckchen wurde in dem billigen Hotel am Flughafen, wo Lucy unter falschem Namen ein Zimmer bestellt und auch bezahlt hatte, abgegeben. Sie fuhr mit dem Mietwagen zum Hotel, parkte in einer Seitenstraße, holte das Päckchen an der Rezeption ab, brachte das Zimmer ein bisschen in Unordnung und hängte ein
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