Die Dämonen ruhen nicht
möglicherweise Latexhandschuhe getragen hat. Marinos Initialen lauten PM, und Benton weiß, dass Blockbuchstaben einen Handschriftenvergleich normalerweise unmöglich machen, wenn dem Gutachter nicht mehrere Druckschriftproben desselben Menschen vorliegen. Benton weiß weiterhin, dass Marino sich in diesem Zimmer totschwitzen und deshalb die Klimaanlage einschalten wird. Und dass er so auf jeden Fall bemerken wird, dass das eine Gerät läuft und das andere nicht. Das wird ihn dann ins Grübeln bringen.
»Die Klimaanlage anlassen?«, sagt Marino laut. Er ist entnervt und erschöpft.
Er kehrt in die Küche zurück und reißt einen Schrank auf, in dem er vorhin einen ordentlich gefalteten Stapel Einkaufstüten aus Papier gesehen hat. Nachdem er eine Tüte durch Schütteln geöffnet hat, lässt er den Umschlag hineinfallen.
»Wovon zum Teufel redest du? Willst du mich etwa verarschen, du Mistkerl?«
Vor Wut schnürt es ihm die Brust zu, als er sich daran erinnert, wie Benton ihn behandelt hat; nicht, als seien sie beide schon ein ganzes Leben lang Freunde, gute Kumpel und fast wie Brüder, die sich - wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise - dieselbe Frau teilen. Insgeheim hat Marino schon immer der phantastischen Vorstellung angehangen, dass er und Benton beide gleichzeitig mit Scarpetta verheiratet waren. Nun hat Marino Exklusivrechte auf sie, aber sie begehrt ihn nicht, und die ständig schwelende Trauer darüber steigert seine Gereiztheit und üble Laune noch mehr. Leichte Panik regt sich in seinem Magen und kriecht ihm die Kehle hinauf.
Draußen in der Dunkelheit ist kein Taxi in Sicht. Marino zündet sich eine Zigarette an und lässt sich entkräftet und schwer atmend auf eine Backsteinmauer sinken. Sein Herz klopft so heftig gegen die Rippen, als würde er von einem Boxer bearbeitet, der auf ihn eindrischt, bis ihm die Luft wegbleibt. Als ihm ein scharfer Schmerz durch die linke Brustseite schießt, bekommt er es mit der Angst zu tun. Er holt langsam, tief und kräftig Luft, kriegt aber nicht genug Sauerstoff.
Ein unbesetztes Taxi fährt vorbei und scheint zu schweben. Der Schweiß rinnt Marino vom Gesicht, als er reglos, die Augen weit aufgerissen und die Hände auf den Knien, auf der Mauer sitzt. Die Zigarette fällt ihm aus den verkrampften Fingern, rollt über das Kopfsteinpflaster und bleibt in einer Ritze liegen.
51
Bev muss ständig an sie denken.
Eigentlich sollte sie einen Bogen um das Lämmchen machen, das ihr gerade auf dem Parkplatz von Wal-Mart fünf Dollar geschenkt hat. Doch das geht nicht. Bev kann den Drang nicht unterdrücken, und obwohl ihre Gelüste gegen sämtliche Gesetze der Vernunft verstoßen, greifen auch in ihren schwarzen, hässlichen Gedanken die Regeln von Ursache und Wirkung: Das Lämmchen hat Bev verhöhnt. Die Frau ist wie angeekelt vor ihr zurückgewichen und hat es dann noch gewagt, sie mit einem Almosen zu demütigen.
Drinnen im Wal-Mart drückt Bev sich um die Regale mit den Insektenschutzmitteln herum, greift nach Flaschen und tut so, als läse sie die Aufschrift, während sie durch die Fensterscheibe den Parkplatz im Auge behält. Zu ihrem Erstaunen fährt das Lämmchen keinen Neuwagen, sondern einen tannengrünen Explorer, der aus irgendeinem Grund nicht zu einer reichen, verwöhnten Ehefrau oder Freundin zu passen scheint. Noch interessanter ist, dass sie mit laufendem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern in dem Geländefahrzeug sitzen bleibt. Bev verschwindet in einer Umkleidekabine und verlässt den Wal-Mart fünf Minuten später in einem grellfarbigen Hawaiihemd und Bermudas, die sie nicht bezahlt und deren Sicherheitsetikette sie mit dem Jagdmesser abgeschnitten hat. Den Regenmantel hat sie auf links gedreht und trägt ihn über dem Arm. Auf dem Kopf hat sie trotz der klaren Nacht eine billige Regenhaube aus Plastik. Wenn sie damit auffallen sollte, werden alle glauben, dass sie entweder nicht richtig tickt oder eine Haarkur einwirken lassen will.
Der Explorer hat sich nicht gerührt. Bev geht schnurstracks auf Jays zerbeulten, schmutzigen weißen Geländewagen zu, überzeugt, dass das Lämmchen sie entweder nicht bemerken oder sie nicht als die Frau erkennen wird, der sie vor einer knappen halben Stunde begegnet ist und der sie Geld gegeben hat. Bev fährt los, biegt nach links in die Perkins ein, überquert die Acadian und parkt auf einem kleinen Parkplatz, wo sich die Autos drängen, da das Caterie besonders bei Studenten ein beliebtes Restaurant
Weitere Kostenlose Bücher