Die Dämonen ruhen nicht
ich schon mal hier bin, kann ich mir auch ein Bier genehmigen, denkt Marino. Der Flaschenöffner liegt auf der Anrichte, wo Marino ihn zuletzt gesehen hat. Er scheint ihm freigebig und liebevoll zuzuwinken wie ein gefüllter Weihnachtsstrumpf. Sonst befindet sich alles an seinem Platz. Sogar die Spülmaschine ist leer.
Komisch.
Benton hat darauf geachtet, dass nicht einmal der Teil eines Fingerabdrucks auf Fenstern, Tischen, Gläsern, Töpfen oder Besteck verblieben ist. Marino hält die Gegenstände ans Dämmerlicht, um sie zu betrachten. Auf dem Teppich sind Spuren eines Staubsaugers zu sehen. Benton hat die gesamte Wohnung geputzt, und als Marino in dem Müllsack wühlt, findet er nichts als seine eigenen leeren Budweiser-Flaschen und die Scherben der Dos-Equis-Flasche, die er in der Spüle zerbrochen hat. Jedes Stück Glas ist sauber, die Etiketten sind feucht und seifig.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«, fragt Marino ins Wohnzimmer hinein.
»Keine Ahnung«, erwidert eine Männerstimme hinter der angelehnten Tür. »Ist da drinnen alles in Ordnung?«
Marino erkennt den Nachbarn von gegenüber. »Gehen Sie ins Bett«, antwortet er mürrisch. »Wenn wir beide uns vertragen wollen, sollten Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern ... wie heißen Sie eigentlich?«
»Dave.«
»Das ist aber komisch. Ich heiße nämlich auch Dave.«
»Echt?«
»Echt.« Marino späht mit finsterer Miene durch den Spalt zwischen angelehnter Tür und Türrahmen.
Dave, der offenbar eher neugierig als ängstlich ist, blickt hinein und versucht, sich in der Wohnung umzuschauen. Allerdings versperrt Marinos beträchtliche Leibesfülle dem Nachbarn die Sicht.
»Kaum zu fassen, der Mistkerl ist einfach abgehauen«, erbost sich Marino. »Wie würden Sie es finden, wenn Sie in Ihre eigene gottverdammte Wohnung einbrechen müssten?«
»Nicht sehr toll.«
»Und nicht nur das. Die Bude ist außerdem ein Schweinestall. Der Typ hat das Besteck, die Töpfe und Pfannen, jedes Stück Seife und sämtliche Klopapierrollen mitgehen lassen.«»Besteck und Töpfe gehören zur Wohnung«, entgegnet Dave empört. »Aber soweit ich sehen kann, macht die Wohnung einen recht sauberen Eindruck.«
»Ja, soweit Sie sehen können.«
»Ich fand den Kerl schon immer seltsam. Warum nimmt man eigentlich Klopapier mit?«
»Ich habe ihn erst vor ein paar Monaten kennen gelernt. Er hat per Anzeige einen Untermieter gesucht«, sagt Marino.
Er richtet sich auf, weicht von der Tür zurück und lässt den Blick noch einmal durch die Wohnung schweifen, während Dave hineinspäht. Der alte Mann hat rot geränderte und glasige Augen, seine rosigen schlaffen Wangen sind mit geplatzten Äderchen marmoriert. Vermutlich das Ergebnis vieler in Gesellschaft einer Whiskeyflasche verbrachter Jahre.
»Ja«, meint Dave. »Er hat nie geredet. Das heißt, wirklich nie, nicht einmal, wenn wir uns im Treppenhaus begegnet sind oder zufällig zur gleichen Zeit die Tür aufgemacht haben. Sogar wenn wir uns gegenüberstanden, hat er mich immer nur kurz angelächelt und mit dem Kinn geruckt.«
Marino ist kein Mensch, der an Zufälle glaubt. Er vermutet vielmehr, dass Dave gehorcht hat, wann Benton kam und ging, um dann gleichzeitig die Tür öffnen zu können.
»Wo waren Sie heute Nachmittag?« Marino fragt sich, ob Dave die ziemlich lautstarke Auseinandersetzung in Bentons Wohnung gehört hat.
»Ach, keine Ahnung. Nach dem Mittagessen schlafe ich immer.«
Betrunken, denkt Marino.
»Er gehört zu den Leuten, die keine Freunde haben«, fährt Dave fort.
Marino blickt sich weiter um und bleibt neben der Tür stehen, während Dave durch den Spalt späht.
»Ich habe nie mitgekriegt, dass er mal Besuch gehabt hat, und ich wohne schon seit fünf Jahren hier. Ich hasse dieses
Haus. Aber ab und zu ist er weggefahren. Seit ich als Chefkoch im Lobster House in Rente gegangen bin, muss ich jeden Penny umdrehen.«
Marino weiß nicht, was das Umdrehen von Pennys mit dem geheimnisvollen Nachbarn des Mannes zu tun haben soll.
»Sie waren dort Chefkoch? Ich esse jedes Mal im Lobster House, wenn ich in Boston bin.«
Das stimmt nicht, und außerdem ist Marino auch nicht sehr oft in Boston.
»Sie und der Rest der Welt, jawoll, Sir. Tja, ich war zwar nicht Chefkoch, aber ich hätte es weiß Gott verdient gehabt. Irgendwann koche ich mal für Sie.«
»Wie lange hat der komische Typ denn hier gewohnt?«
»Oh.« Dave seufzt, und seine Augen funkeln im Türspalt, als er Marino
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