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Die Dämonen

Titel: Die Dämonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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aller Orten zum Protest aufgerufen werden sollen ...«
    Aber sie brach ab; am andern Ende des Tisches war bereits ein Konkurrent erschienen, und alle Blicke wandten sich zu ihm hin. Der langohrige Schigalew hatte sich mit finsterer, mürrischer Miene langsam von seinem Platze erhoben und melancholisch ein dickes Heft mit außerordentlich kleiner Schrift auf den Tisch gelegt. Er setzte sich nicht wieder hin und schwieg. Viele blickten mit Bestürzung auf das Heft; aber Liputin, Wirginski und der lahme Lehrer schienen mit irgend etwas zufrieden zu sein.
    »Ich bitte ums Wort,« sagte Schigalew in mürrischem, aber festem Tone.
    »Sie haben das Wort,« erklärte Wirginski.
    Der Redner setzte sich, schwieg etwa eine halbe Minute lang und begann dann mit gewichtigem Ernste:
    »Meine Herren! ...«
    »Da ist der Kognak!« sagte verdrossen und geringschätzig die Verwandte, deren Amt es war, den Tee einzuschenken; sie hatte sich entfernt gehabt, um den Kognak zu holen, und stellte jetzt vor Werchowenski die Flasche hin, sowie auch ein Glas, das sie in den bloßen Fingern gebracht hatte, ohne Untersatz und ohne Teller.
    Der unterbrochene Redner hielt würdevoll inne.
    »Lassen Sie sich nicht stören; fahren Sie nur fort; ich höre doch nicht zu!« rief Werchowenski und goß sich ein Glas ein.
    »Meine Herren, indem ich mich an Ihre Aufmerksamkeit wende«, begann Schigalew von neuem, »und, wie Sie weiter unten sehen werden, um Ihre Hilfe in einem Punkte von allergrößter Wichtigkeit bitte, muß ich eine Einleitung vorausschicken.«
    »Arina Prochorowna, haben Sie keine Schere?« fragte Peter Stepanowitsch auf einmal.
    »Wozu brauchen Sie eine Schere?« fragte sie und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an.
    »Ich habe vergessen, mir die Nägel zu schneiden; seit drei Tagen habe ich es mir schon vorgenommen,« erwiderte er und betrachtete harmlos seine langen, unsauberen Nägel.
    Arina Prochorowna wurde dunkelrot vor Ärger; aber Fräulein Wirginskaja schien an dieser Ungeniertheit Gefallen zu finden.
    »Ich glaube, ich habe sie vorhin hier auf dem Fensterbrett gesehen,« sagte Arina Prochorowna, stand vom Tische auf, ging hin, suchte die Schere und brachte sie alsbald.
    Peter Stepanowitsch gönnte der gefälligen Hausfrau nicht einmal einen Blick, nahm die Schere hin und begann, sie zu benutzen. Arina Prochorowna sagte sich, das müsse wohl ein realistisches Benehmen sein, und schämte sich ihrer Empfindlichkeit. Die Versammelten wechselten schweigend Blicke miteinander. Der lahme Lehrer betrachtete Werchowenski voll Zorn und Haß. Schigalew fuhr fort:
    »Indem ich meine Energie dem Studium der Frage widmete, wie beschaffen die sozialistische Einrichtung der künftigen Gesellschaft sein müsse, von der die jetzige abgelöst werden wird, bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß alle Begründer sozialistischer Systeme von den ältesten Zeiten bis zu unserem Jahre 187.. Phantasten, Märchenerzähler und Dummköpfe gewesen sind, die absolut nichts von der Naturwissenschaft und von jenem seltsamen Wesen, das Mensch genannt wird, verstanden. Plato, Rousseau, Fourier sind Säulen aus Aluminium; all das taugt vielleicht für Spatzen, aber nicht für die menschliche Gesellschaft. Aber da die Feststellung der künftigen Gesellschaftsform gerade jetzt, wo wir alle uns endlich zum Handeln anschicken, unumgänglich notwendig ist, damit wir nachher nicht mehr darüber nachzudenken brauchen, so schlage ich mein eigenes System der Welteinrichtung vor. Hier ist es!« Er klopfte auf das Heft. »Ich wollte der Versammlung mein Buch nach Möglichkeit in abgekürzter Form darlegen; aber ich sehe, daß ich notwendigerweise noch eine Menge von mündlichen Erklärungen werde hinzufügen müssen, und daher wird die ganze Darlegung mindestens zehn Abende erfordern, nach der Zahl der Kapitel meines Buches.« (Gelächter wurde vernehmbar). »Außerdem erkläre ich im voraus, daß mein System noch nicht zum Abschluß gebracht ist.« (Wieder Lachen.) »Ich habe mich in meinen eigenen Aufstellungen verwirrt, und mein Schlußresultat steht in direktem Widerspruche mit der ursprünglichen Idee, von der ich ausgehe. Indem ich von unbeschränkter Freiheit ausgehe, schließe ich mit unbeschränktem Despotismus. Ich füge jedoch hinzu, daß es außer meiner Lösung des sozialistischen Problems keine andere geben kann.«
    Das Gelächter hatte sich immer mehr gesteigert; aber es lachten vorwiegend die jungen und sozusagen noch wenig eingeweihten Gäste. Auf den

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