Die Daemonenseherin
schleiften haltlos über den Boden, als sie sie der Tür entgegenzerrten.
Ganz gleich, was es sie kosten würde, sie konnte hier keinen Tag länger bleiben. Die bloße Vorstellung, dass man sie erneut in künstlichen Tiefschlaf versetzen und ihr Wochen und Monate ihres Lebens rauben würde, nur um weitere Tests an ihr durchzuführen, brachte sie schier um den Verstand. Die Angst, eines Tages einfach nicht mehr zu erwachen, wenn sie ihr das Mittel spritzten, und für den Rest ihrer Tage in zeitloser Dunkelheit dahinzuvegetieren, bis der Tod sie endlich erlöste, war mehr, als sie ertragen konnte.
Nicht noch einmal. Kein Schlaf mehr.
Es musste einen Weg hier heraus geben, sie musste ihn nur finden.
Im Griff der Weißkittel hängend ließ sie ihren Blick umherschweifen. Von dem Tank einmal abgesehen war der Raum vollkommen leer. Hier gab es nichts, das ihr bei einem Fluchtversuch helfen konnte.
Es musste also geschehen, ehe die Männer sie hierher zurückbrachten.
Ohne den Einsatz ihrer Kräfte würde sie sich nicht von den Fesseln befreien können. Doch sich zu befreien war nicht genug. Sie musste den Männern entkommen!
Der Gedanke, auf ihre Fähigkeiten zurückzugreifen, ließ Übelkeit in ihr aufwallen. Seit mehr als zwei Jahren hatte Susannah sie nicht mehr benutzt. Nicht, seit sie aus dem Labor entkommen waren. Das Wissen, was früher oder später geschehen würde, wenn sie darauf zugriff, hatte sie jeden Tag aufs Neue davon abgehalten, es zu tun. Sie war nicht einmal in Versuchung gekommen.
Diesmal jedoch gab es keinen anderen Weg.
Sie konnte nur hoffen, dass sie die Kontrolle über den Dämon nicht verlieren würde. Einmal, während der Testreihen im Labor, hatte sie gespürt, wie sich die Kreatur in ihr geregt hatte. Der Zorn und der Hunger, den das Monster ausgestrahlt hatte, waren derart grauenvoll gewesen, dass sie es nie wieder spüren wollte.
Zu ihrem Erstaunen führten die Weißkittel sie nicht in eines der Labore, sondern in Doktor Burkes Büro. Die Oberfläche des großen Schreibtisches war mit Papieren und Akten übersät und ließ gerade noch Platz für den Computerbildschirm und die Tastatur. Selbst auf den metallenen Aktenschränken, die jede freie Wand flankierten, stapelten sich Unterlagen.
Eine Neonröhre sandte ihr kaltes Licht von der Decke und erhellte den fensterlosen Raum. Obwohl es hell genug war, brannte zusätzlich eine Schreibtischlampe.
Doktor Burke saß hinter dem Schreibtisch und studierte einige Unterlagen. Als die Männer Susannah in den Raum zerrten, sah sie auf.
»Ah, Miss Hensleigh«, empfing sie die Ärztin, als sei sie aus freien Stücken zu einem Termin gekommen. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Die Weißkittel schoben Susannah zu einem der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen, und drückten sie in den Sitz. Die Arme noch immer an die Seiten gefesselt sank sie in den Stuhl, der sie wie ein Schraubstock umfangen hielt. Auf ein Nicken der Ärztin hin entfernten sich die beiden Assistenten von ihr.
Umso besser. Je weniger Leute hier waren, desto größer waren ihre Chancen, zu entkommen. Unglücklicherweise blieben die beiden Männer neben der Tür stehen.
Doktor Burkes Blick richtete sich erneut auf Susannah. Sie betrachtete sie so eingehend, als sei sie ein Bakterium unter einem Mikroskop. Doch auch Susannah nutzte die Gelegenheit, die Ärztin zu mustern. Ihr aschblondes Haar hatte jeden Glanz verloren und hing wie welker Schnittlauch um ihren Kopf. Die wasserblauen Augen wirkten trüb und müde und in ihrem Gesicht hatten sich tiefe Furchen eingegraben.
Als Susannah die Ärztin das letzte Mal gesehen hatte, war sie eine attraktive Mittdreißigerin gewesen. Heute jedoch, zwei Jahre später, war sie vor ihrer Zeit gealtert.
Es scheint stressig zu sein, diese Experimente vor der Öffentlichkeit zu verstecken , dachte Susannah nicht ohne Genugtuung. Verrecken soll sie für das, was sie getan hat!
»Ich spare mir die üblichen Floskeln, Miss Hensleigh, denn um ehrlich zu sein, ist es mir vollkommen gleichgültig, wie es Ihnen während der letzten Jahre ergangen ist.« Was durchaus eine Beleidigung sein konnte, klang aus dem Mund der Ärztin lediglich wie der dringende Wunsch, nicht noch mehr Zeit zu verschwenden. »Doktor Cummings erzählte mir, dass Sie erst kürzlich Kontakt zu Miss Flynn hatten. Wo ist sie?«
»Keine Ahnung.« Es waren ihre ersten Worte, seit sie aus dem Isolationstank geholt worden war. Klebrig rollten sie von ihrem Gaumen und
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