Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
Einhörner hatten es erwähnt. Es war ihr ja – wenn auch unbewusst – schon früher gelungen! Als man sie am Gesicht verwundet hatte, war sie den Verfolgern in der Zeit entflohen, war vier Tage vorwärtsgesprungen, dann hatte Vysogota diese Tage nicht zusammenbekommen, die Rechnung war partout nicht aufgegangen …
Vielleicht war also das ihre Chance? Ein Sprung in der Zeit?
Sie beschloss, es zu versuchen. Die brennende Stadt zum Beispiel hatte ja vorher nicht gebrannt. Wenn sie nun vor dem Brand hingelangte? Oder danach?
Sie geriet beinahe mitten in das Feuer, versengte sich Brauen und Wimpern und rief eine ungeheure Panik unter den Leuten hervor, die aus der brennenden Stadt flohen.
Sie floh auf die freundliche Heide. Es lohnt sich wohl nicht, solch ein Risiko einzugehen; weiß der Kuckuck, wie das enden kann. Mit den Orten komme ich besser zurecht, halten wir uns also an die Orte. Versuchen wir, an Orte zu gelangen. An bekannte Orte, solche, an die ich mich gut erinnere. Und solche, die mir vorschweben.
Sie begann mit dem Tempel der Melitele, indem sie sich das Tor, das Gebäude, den Park, die Werkstatt, das Dormitorium der Adeptinnen vorstellte, das Zimmer, in dem sie mit Yennefer gewohnt hatte. Sie konzentrierte sich, die Fäuste an den Schläfen,vergegenwärtigte sich das Gesicht Nennekes, Eurneids, Katjes, Iolas der Zweiten.
Es wurde nichts daraus. Sie geriet in ein nebliges und von Mücken wimmelndes Sumpfland, das von den Pfiffen der Schildkröten und dem lauten Quaken der Frösche widerhallte.
Sie versuchte der Reihe nach – ohne besseren Erfolg – Kaer Morhen, die Skellige-Inseln, die Bank in Gors Velen, in der Fabio Sachs arbeitete. Sie wagte es nicht, Cintra zu versuchen; sie wusste, dass die Stadt von den Nilfgaardern besetzt war. Stattdessen versuchte sie Wyzima, die Stadt, in der sie und Yennefer einmal Einkäufe gemacht hatten.
Aarhenius Krantz, ein Weiser, Alchimist, Astronom und Astrologe, rutschte auf dem harten Schemel hin und her, das Auge ans Okular des Fernrohrs gepresst. Der Komet erster Größe und Helligkeit, den man seit fast einer Woche am Himmel betrachten konnte, verdiente es, beobachtet und erforscht zu werden. Aarhenius Krantz wusste, dass solch ein Komet, der einen feuerroten Schweif hatte, große Kriege, Feuersbrünste und Gemetzel anzukündigen pflegte. Jetzt allerdings hatte sich der Komet mit der Ankündigung ein wenig verspätet, denn der Krieg mit Nilfgaard war in vollem Gange, und Feuersbrünste und Gemetzel konnte man blindlings und unfehlbar vorhersagen, denn ohne sie verging kein Tag. Der in den Bewegungen der Himmelssphären beschlagene Aarhenius Krantz hoffte jedoch zu berechnen, wann, in wie viel Jahren oder Jahrhunderten der Komet abermals erscheinen und den nächsten Krieg verkünden würde, auf den man sich dann womöglich besser als auf den gegenwärtigen vorbereiten könnte.
Der Astronom stand auf, massierte sich das Hinterteil und ging seine Blase entleeren. Von der Terrasse, übers Geländer. Er pinkelte immer von der Terrasse direkt in das Pfingstrosenbeet, ohne sich um die Reprimanden der Hausherrin zu scheren. Bis zum Abort war es einfach zu weit; Zeit für lange Gänge zu vergeuden,gehörte sich nicht für einen ernsthaften Gelehrten. Die Arbeit zu verlassen und wegen der Notdurft weit zu gehen, konnte zum Verlust wertvoller Überlegungen führen, und das durfte sich kein Wissenschaftler erlauben.
Er stellte sich ans Geländer, öffnete die Hose und schaute auf die Lichter Wyzimas, die sich im Wasser des Sees spiegelten. Er seufzte erleichtert und hob den Blick zu den Sternen.
Sterne, dachte er, und Konstellationen. Die Winterjungfrau, die Sieben Ziegen, der Krug. Gewissen Theorien zufolge sind das überhaupt keine blinkenden Lichtlein, sondern Welten. Andere Welten. Welten, von denen uns die Zeit und der Kosmos trennen … Ich glaube fest, dachte er, dass es einmal möglich sein wird, zu diesen anderen Orten, in diese anderen Zeiten und Kosmen zu reisen. Ja, gewiss wird das eines Tages möglich sein. Es wird sich ein Mittel finden. Aber das wird ein völlig neues Denken erfordern, eine neue belebende Idee, die das steife Korsett sprengt, das uns heute einengt und rationale Erkenntnis genannt wird …
Ach, dachte er, während er sich schüttelte, wenn das doch so gelänge … Wenn man solch eine Erleuchtung haben, auf die richtige Fährte kommen könnte! Wenn es solch eine einzige, unwiederbringliche Gelegenheit gäbe
Weitere Kostenlose Bücher