Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
die ihr bekannte Heide war, merkte Ciri sofort. Sie brauchte nicht einmal bis zum Abend zu warten, um sich sicher zu sein, dass sie hier keine zwei Monde erblicken würde.
Der Wald, an dessen Rand sie entlangritt, war ebenso wild und unzugänglich wie jener andere, doch Unterschiede waren zu sehen. Hier gab es beispielsweise viel mehr Birken und wesentlich weniger Buchen. Dort waren keine Vögel zu sehen und zu hören gewesen, hier gab es viele davon. Dort hatte es zwischendem Heidekraut nur Sand und Moos gegeben, hier breitete sich in ganzen Teppichen grüner Bärlapp aus. Sogar die Heupferdchen, die vor Kelpies Hufen davonsprangen, waren hier irgendwie anders. Gleichsam vertraut. Dann aber …
Das Herz schlug ihr heftiger. Sie hatte einen Pfad erblickt, zugewachsen und vernachlässigt. Er führte ins Innere des Waldes.
Ciri schaute sich gründlich um und vergewisserte sich, dass der seltsame Weg nicht weiterführte, dass er hier endete. Dass er nicht parallel zu dem Walde verlief, sondern von ihm fort oder durch ihn hindurch. Ohne lange zu überlegen, drückte sie der Stute den Absatz in die Flanke und ritt zwischen die Bäume. Ich werde bis Mittag reiten, dachte sie, wenn ich bis Mittag nichts finde, mache ich kehrt und reite in die andere Richtung, über die Heide hinweg.
Sie ritt im Schritt unter einem Baldachin von Baumkronen, schaute sich aufmerksam um, bemüht, nichts Wichtiges zu übersehen. Dadurch übersah sie den alten Mann nicht, der hinter einem Eichenstamm hervorlugte.
Der Alte, ziemlich klein, aber keineswegs gebeugt, war in ein Leinenhemd und in Hosen aus demselben Material gekleidet. An den Füßen trug er große und urkomisch aussehende Bastschuhe. In der einen Hand hielt er einen knorrigen Stock, in der anderen einen Weidenkorb. Sein Gesicht konnte Ciri nicht genau sehen, es wurde vom ausgefransten und herabhängenden Rand eines spitzen Strohhutes verdeckt, unter dem eine sonnenverbrannte Nase und ein grauer, verfilzter Bart hervorschauten.
»Keine Angst«, sagte sie. »Ich tu dir nichts.«
Der Graubart trat von einem Bastschuh auf den anderen und nahm den Hut ab. Sein Gesicht war rundlich, von Altersflecken übersät, aber frisch und kaum von Falten durchzogen, die Brauen dünn, das Kinn klein und stark zurückweichend. Die langen grauen Haare trug er im Genick zu einem Pferdeschwanz gebunden, sein Scheitel war dagegen völlig kahl, glänzend und gelb wie ein Kürbis.
Sie sah, wie er nach ihrem Schwert schaute, nach dem über die Schulter ragenden Griff.
»Keine Angst«, wiederholte sie.
»He, he!«, sagte er, wobei er etwas nuschelte. »He, he, mein Fräulein. Der Waldopa hat keine Angst nicht. Er gehört nicht zu den Ängstlichen, o nein.«
Er lächelte. Seine Zähne waren groß, standen weit vor, und zwar wegen des schlechten Bisses und des fliehenden Unterkiefers. Darum nuschelte er auch.
»Der Waldopa hat keine Angst nicht vor Wanderern«, wiederholte er. »Nicht einmal vor Räubern. Der Waldopa ist arm, nichts zu holen. Der Waldopa ist ruhig, er schadet keinem. He!«
Wieder lächelte er. Wenn er lächelte, schien er nur aus den Schneidezähnen zu bestehen.
»Und du, mein Fräulein, hast du keine Angst vor dem Waldopa?«
Ciri schnaubte. »Stell dir vor, nein. Ich gehöre auch nicht zu den Ängstlichen.«
»He, he, he! Aber das ist ja erst was!« Er trat einen Schritt auf sie zu, auf den Stock gestützt.
Kelpie schnaubte. Ciri zog ihr die Zügel straff. »Sie mag keine Fremden«, warnte sie. »Und sie kann beißen.«
»He, he! Der Waldopa weiß. Eine ungute, unhöfliche Stute! Und woher, wenn man fragen darf, kommt das Fräulein? Und wo, sagen wir, will es hin?«
»Das ist eine lange Geschichte. Wohin führt dieser Weg?«
»He, he! Das Fräulein weiß das nicht?«
»Antworte gefälligst nicht mit Fragen auf Fragen. Wohin verläuft dieser Weg? Was ist das überhaupt für ein Ort? Und was ist das … für eine Zeit?«
Der Alte bleckte wieder die Zähne, bewegte sie wie ein Sumpfbiber. »He, he«, nuschelte er. »Aber das ist ja erst was. Was für eine Zeit, fragt das Fräulein? Oi, von weither, sieht man, von weither ist das Fräulein zum Waldopa gewandert!«
»Stimmt, von ziemlich weit her.« Sie nickte gleichgültig. »Von anderen …«
»… Orten und Zeiten«, beendete er den Satz. »Der Opa weiß. Der Opa kann es sich denken.«
»Was?«, fragte sie erregt. »Was kannst du dir denken? Was weißt du?«
»Der Waldopa weiß viel.«
»Rede!«
»Das
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