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Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See

Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See

Titel: Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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erstenMondviertel, wurden hier sechs junge Leute ermordet. Vier Burschen   … und zwei Mädchen. Erinnerst du dich?«
    Hinkefuß schluckte. Er hatte es seit einer Weile vermutet, jetzt wusste er es, jetzt war er sich sicher.
    Das Mädchen hatte sich verändert. Und es lag nicht nur an dieser Narbe im Gesicht. Sie war ganz anders als damals, als sie, am Pferdepfosten festgebunden, geheult hatte, während sie zusah, wie Bonhart den getöteten Mitgliedern der Rattenbande die Köpfe abschnitt. Ganz anders als damals, als er sie in der Herberge »Zum Chimärenkopf« ausgezogen und geschlagen hatte. Nur diese Augen   … Diese Augen hatten sich nicht verändert.
    »Ich erinnere mich, Euer Gnaden«, bestätigte Hinkefuß. »Wie hätte ich das vergessen sollen. Sechs junge Leute erschlagen. In der Tat, voriges Jahr war das. Im September.«
    Das Mädchen schwieg lange, blickte nicht ihn an, sondern irgendwohin ins Weite, an ihm vorbei.
    »Du musst also wissen   …«, brachte sie schließlich mit Mühe hervor. »Du musst den Ort kennen, wo man diese Burschen und Mädchen vergraben hat. Unter welchem Zaun   … Auf welcher Müllhalde, in welchem Misthaufen   … Und wenn ihre Körper verbrannt worden sind   … Wenn man sie in den Wald gebracht hat, den Wölfen und Füchsen zum Fraß   … Dann wirst du mir diese Stelle zeigen. Du wirst mich dort hinführen. Hast du verstanden?«
    »Ich habe verstanden, gnädige Frau. Erlaubt. Denn es ist gar nicht weit.«
    Er humpelte voran, spürte im Nacken den heißen Atem ihrer Pferde. Er schaute sich nicht um. Etwas sagte ihm, dass er es nicht sollte.
    Schließlich zeigte er. »Da ist es. Das ist unser Gemeindefriedhof, in diesem Wäldchen. Und die, nach denen Ihr gefragt habt, gnädige Frau Falka, dort liegen sie.«
    Das Mädchen stieß einen tiefen Seufzer aus. Hinkefuß schielte zu ihr hin, sah, wie sich ihr Gesicht veränderte. Der Weißhaarigeund die Schwarzhaarige schwiegen, und ihre Gesichter waren wie von Stein.
    Das Mädchen schaute lange auf den kleinen Grabhügel, der hübsch war, ordentlich, gepflegt, mit Sandsteinbrocken eingefasst, mit Platten von Feldspat und Schiefer. Das Tannenreisig, mit dem man das Grab einst geschmückt hatte, war rostbraun geworden. Die Blumen, die man einst hier hingelegt hatte, waren verwelkt und vergilbt.
    Das Mädchen sprang vom Pferd. »Wer?«, fragte sie tonlos, ohne den Blick abzuwenden.
    »Nun ja« – Hinkefuß räusperte sich   –, »viele in Eifers haben geholfen. Aber am meisten die Witwe Goulue. Und der junge Nycklar. Die Witwe war immer eine gute und mitleidige Frau   … Und Nycklar   … Den quälten schreckliche Träume. Ließen ihm keine Ruhe. Bis er diesen Umgebrachten eine ordentliche Ruhestätte verschafft hatte   …«
    »Wo finde ich sie? Die Witwe und diesen Nycklar?«
    Hinkefuß schwieg lange.
    »Die Witwe liegt dort, hinter dieser krummen Birke«, sagte er schließlich und schaute dem Mädchen furchtlos in die grünen Augen. »Ist im Winter an Lungenentzündung gestorben. Und Nycklar wurde eingezogen und ist irgendwo im fremden Land   … Es heißt, er ist im Krieg gefallen.«
    »Ich hatte vergessen«, flüsterte sie. »Ich hatte vergessen, dass beide ja das Schicksal mit mir zusammengebracht hat.«
    Sie ging zu dem Grabhügel, kniete sich hin, genauer gesagt, fiel auf die Knie. Sie beugte sich tief vor, sehr tief, fast berührte sie mit der Stirn die Steine der Einfassung. Hinkebein sah, wie der Weißhaarige eine Bewegung machte, als wolle er vom Pferd steigen, doch die schwarzhaarige Frau fasste ihn an der Hand, hielt ihn mit der Geste und ihrem Blick zurück.
    Die Pferde schnaubten, nickten heftig, dass die Ringe der Gebissstangen klirrten.
    Das Mädchen kniete lange, sehr lange an dem Grabhügel,weit herabgebeugt, und ihre Lippen bewegten sich in einer lautlosen Litanei.
    Als sie aufstand, wankte sie. Hinkefuß stützte sie instinktiv. Sie zuckte heftig, riss den Ellenbogen los, schaute ihn durch Tränen hindurch feindselig an. Doch sie sagte kein Wort. Sie dankte sogar mit einem Kopfnicken, als er ihr den Steigbügel hielt.
    »Ja, gnädiges Fräulein Falka«, wagte er zu sagen. »Einen seltsamen Lauf hat das Schicksal genommen. Ihr wart damals in einer schlimmen Lage, in einer üblen Klemme   … Kaum jemand von uns hier in Eifers dachte, dass Ihr da heil rauskommt   … Und heute seid Ihr wohlauf, und Goulue und Nycklar sind im Jenseits   … Da ist nicht einmal jemand, dem man danken könnte, was?

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