Die Darwin-Kinder
Wissenschaft und der Vernunft auszuschöpfen, war ihr der Rufer nur mit Liebe und Zustimmung begegnet.
Sie selbst konnte sich bestrafen, der Rufer jedoch würde es niemals tun.
Was Kaye als noch peinlicher empfand, war die Tatsache, dass sie den Rufer mittlerweile eindeutig als nicht-weiblich, auch nicht als geschlechtslos, sondern am ehesten als männlich betrachtete. In keiner Weise ähnelte er ihrem Vater, Mitch oder sonst einem Mann, dem sie in ihrem Leben begegnet war oder den sie gekannt hatte, dennoch kam er ihr seltsamerweise maskulin vor. Was das in psychologischer Hinsicht bedeutete, wollte sie auf keinen Fall ergründen. Für ihren Geschmack war das männliche Bild, das sie vom Rufer hatte, sowieso ein wenig zu dogmatisch, zu sehr an den Kirchenglauben angelehnt, als dass ihr wohl dabei gewesen wäre.
Aber der Rufer kümmerte sich wenig um solche Vorbehalte.
Abgesehen von ihrem Drang, Stella zu helfen, war er das Beständigste in ihrem Leben.
»Tue ich das Richtige?«, fragte sie und sah sich erneut im Labor um. Ihr Zittern hörte auf. Sie ließ es zu, dass außerordentliche Ruhe und Gelassenheit von ihr Besitz ergriffen. »Das heißt ja, nehme ich an«, sagte sie vorsichtig.
»Bist du die Nummer eins? Bist du Jesus? Oder nur Gabriel?«
Sie hatte diese Fragen auch früher schon gestellt, aber nie eine Antwort bekommen. Diesmal jedoch spürte sie eine fast unmerkliche Veränderung in den Empfindungen, die sie durchströmten. Sie schloss die Augen und flüsterte: »Nein.
Keiner der Genannten. Bist du mein Schutzengel?« Kurz darauf schloss sie erneut die Augen und flüsterte: »Nein. Was bist du dann?«
Keine Antwort, keine Veränderungen, kein Hinweis.
»Gott?«
Nichts.
»Du bist in mir oder über mir oder irgendwo, wo du den ganzen Tag lang einfach nur Liebe und Wertschätzung über mich ergießen kannst. Und dann gehst du fort und lässt mich im Elend zurück. Das verstehe ich nicht. Ich muss wissen, ob du nur irgendetwas in meinem Kopf bist. Ein Kurzschluss von zwei Nervensträngen, die sich überkreuzt haben. Oder ein geplatztes Blutgefäß. Ich brauche eine Rückversicherung, auf die ich mich verlassen kann. Das nimmst du mir hoffentlich nicht übel.«
Der Rufer äußerte keine Einwände, nicht einmal in der Weise, dass er sich unter der Attacke all dieser Fragen und Blasphemien zurückgezogen hätte.
»Du bist mir schon eine Marke, weißt du das?« Kaye setzte sich vor den Computer und loggte sich ins Intranet von Americol ein. »Du hast überhaupt nichts an dir, das dem entspricht, was sie einem im Kindergottesdienst beibringen.«
Sie blickte auf die Uhr – inzwischen war es sechs Uhr abends
– und sah auf der vom Computer abgespeicherten aktuellen Anwesenheitsliste nach, wer sich jetzt noch im Gebäude aufhielt.
Im ersten Stock war der Chefradiologe Herbert Roth noch an der Arbeit, er machte Überstunden. Genau der Mann, den sie brauchte. Roth leitete das Labor, in dem die nichtinvasiven Bildgebungsverfahren praktiziert wurden. Als sie vor zwei Wochen Scans von Wishtoes, ihrem ältesten Schimpansenweibchen machen musste, hatte sie mit ihm zusammengearbeitet.
Roth war noch relativ jung, ein stiller Mensch und in seinem Fach sehr engagiert.
Kaye öffnete die Labortür und trat auf den Gang. »Ob Mr.
Roth wohl Lust hat, von mir einen Scan zu machen?«, fragte sie, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.
14
Arizona
Es dauerte Stunden, bis Stella Mitch sehen durfte. Zuerst machte eine Krankenschwester bei Stella Visite, untersuchte sie, machte einen Abstrich von ihren Wangenhöhlen und nahm ihr ein paar Kubikzentimeter Blut ab.
Stella wandte den Blick ab, als die Schwester sie leicht mit der Nadel piekste. Sie konnte deren Nervosität riechen. Sie war nur wenige Jahre älter als Stella und die Prozedur gefiel ihr ganz und gar nicht.
Danach brachte Miss Kantor Stella in die Besucherzone. Das Erste, was Stella auffiel, war, dass die Trennwand aus Kunststoff entfernt worden war. Es gab hier nur noch einen Tisch und Stühle. Irgendetwas hatte sich verändert, und das beschäftigte sie für kurze Zeit. Sie strich leicht über das kleine Viereck aus Mull, das mit Heftpflaster in ihrer Armbeuge befestigt war.
Eine Stunde später kehrte Miss Kantor mit einem Stapel von Comic-Heften zurück. X-Men, sagte sie. »Die werden dir gefallen. Dein Vater wird immer noch untersucht. Gib mir den Mull.«
Stella riss das Heftpflaster ab und reichte Miss Kantor den Mull, den sie in einer
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