Die Darwin-Kinder
hören.«
»Aber natürlich gibt es auch Dinge, über die sie bereits Bescheid wissen«, fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu.
»Falls du möchtest, erzähl ich dir davon.«
»Klar doch, Liebes. Was immer du erzählen magst.«
Die Augen auf die Tischplatte gerichtet, erzählte sie Mitch von den Gruppen, die aus zwanzig bis dreißig Kindern bestanden und die sie Deme nannten. »Das bedeutet so viel wie das Volk. In den Demen sind wir wie Schwestern. Die lassen nicht zu, dass die Jungs in denselben Wohnheimen, in denselben Unterkünften wie wir schlafen. Deshalb müssen wir nachts mit unseren Liedern über den Zaun dringen und auf diese Weise versuchen, Jungs für unsere Deme zu gewinnen.«
»Vermutlich ist das auch am besten so.« Mitch zog eine Augenbraue hoch und presste die Lippen aufeinander.
Stella schüttelte den Kopf. »Nein, die verstehen das einfach nicht. Ein Dem ist wie eine große Familie. Wir helfen einander, reden miteinander, lösen Probleme und schlichten Streitigkeiten. Innerhalb des Dems verhalten wir uns alle so vernünftig. Wir fühlen uns so wohl miteinander, es stimmt einfach alles. Vielleicht liegt es daran, dass…«
Mitch fuhr zurück, denn plötzlich platzte seine Tochter mit Worten heraus, die sie gleichzeitig, in verdoppelter Sprache, artikulierte:
»Für uns ist das Zusammensein lebensnotwendig! Uns geht es dann besser und wir werden nicht so leicht krank.
Jeder sorgt sich um die anderen.! Jeder ist glücklich mit den anderen.
Wer diese Erfahrung nicht machen kann, ist traurig! Wer getrennt von den anderen ist, wird traurig.«
Beide Wortströme kamen klar und deutlich heraus, das verblüffte ihn. Wenn er sie sofort erfasste und analysierte, konnte er die Sätze einfach hintereinander hängen. Allerdings war ihm klar, dass er sie durcheinander bringen würde, falls dieser Monolog mehr als ein paar Sekunden andauerte. Und er hatte keinen Zweifel daran, dass Stella jetzt ewig so weitermachen konnte.
Während sie ihn direkt ansah, zog sich die Haut oberhalb ihrer Augenhöhlen zu einer Falte zusammen, die er weder nachvollziehen noch deuten konnte. Unterhalb der Augenhöhlen und in ihrem Umkreis bildeten sich Tupfen, die wie kleine braun-goldene Sterne funkelten. Stella strahlte so, wie er es noch nie gesehen hatte.
Ihm lief ein Schauer über den Rücken, teils aus Ehrfurcht, teils aus Sorge. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn… du so etwas machst«, sagte er. »Ich meine, es ist schön, aber…«
»Wenn ich was mache?« Stellas Augen blickten wieder normal.
Mitch schluckte. »Wenn du in einem Dem bist, wie viele von euch reden dann auf diese Weise… gleichzeitig?«
»Wir bilden Zirkel. Wir reden miteinander im Zirkel, aber auch kreuz und quer.«
»Und wie viele sind in so einem Zirkel?«
»Fünf oder zehn. Mädchen und Jungs getrennt, natürlich. Die Jungs haben Regeln, die Mädchen haben Regeln. Wir können auch neue Regeln aufstellen, aber manche scheinen wie von selbst entstanden zu sein. Meistens halten wir uns daran – es sei denn, wir haben das Gefühl, dass es einen Notfall gibt, weil sich jemand wegseitig fühlt.«
»Wegseitig.«
»Nicht Teil der Wolken ist. Wenn wir Wolken bilden, sind wir noch mehr wie Brüder und Schwestern. Manche von uns werden dann auch zu Mama und Papa und übernehmen die Führung, aber Mama und Papa zwingen uns nie zu Dingen, die wir nicht wollen. Wir entscheiden gemeinsam.«
Sie blickte zur Decke hoch, wobei sich an ihrem Kinn ein Grübchen zeigte. »Du weißt ja davon, Kaye hat’s dir erzählt.«
»Manches hab ich auch gelesen. Ich weiß noch, wie du einige dieser… Techniken an uns ausprobiert hast und ich mich bemüht habe, bei dir mitzuhalten. Ich war nicht besonders gut darin, deine Mutter konnte es besser.«
»Ihr Gesicht… Wenn ich in den Wolken die Mutterrolle übernehme, sehe ich ihr Gesicht. Ihr Gesicht wird zu meinem.«
Ihre Brauen bildeten elegante, eindrucksvolle Doppelbögen, die ebenso seltsam wie schön wirkten. »Es ist schwer zu erklären.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Mitchs Haut begann leicht zu brennen. Das Zusammensein mit seiner Tochter gab ihm das Gefühl, ausgeschlossen, ihr sogar unterlegen zu sein; welche Gefühle mochten diese Kinder in ihren Beraterinnen, ihren Betreuerinnen wecken?
Wer waren in diesem Zoo eigentlich die Wärter und wer die Tiere?
»Was passiert, wenn jemand anderer Meinung ist? Zwingt ihr ihm oder ihr dann euren Willen auf?«
Stella dachte kurz darüber
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